(Gastbeitrag) Die Schere und die Wut – Was Wut mit Eltern und Kindern macht
Gastbeitrag von Melanie (einblogbuntes.com)
Ich fühle mich sehr geehrt, weil ich für Fiona einen Gastartikel schreiben darf.
Ich verfolge sie in den sozialen Medien schon länger und finde Ihre Einstellungen großartig. Sie sind immer liebevoll, zugewandt und lösungsorientiert, auf Augenhöhe mit dem Kind. Deshalb habe ich mich wahnsinnig gefreut, als sie mich gefragt hat, ob ich etwas für sie schreiben will.
Natürlich will ich das, und ich möchte etwas über Wut schreiben. Über unsere Wut, also die Wut der Eltern und was das macht, mit uns und unseren Kindern. Dazu benutze ich eine bildhafte Darstellung, weil ich denke, dass Imaginationen sehr wichtig sind und uns helfen können, unsere Wut zu überwinden.
Wut kann gut und schlecht eingesetzt werden
Wenn die Wut eine Farbe wäre, welche wäre das? Ich glaube, fast alle haben jetzt die Farbe „Rot“ im Kopf.
Was wäre die Wut dann für ein Gegenstand?
Da ist die Antwort sicher individueller, ich habe mich aber für eine Schere entschieden. Von mir aus auch eine, die rot ist. Eine Schere ist ein wichtiges und vielfältiges Instrument, wir können damit alles schneiden, was wir wollen, wir können damit zerstören oder schöne Sachen basteln. Sie kann also gut und schlecht eingesetzt werden – genau wie unsere Wut.
Grundsätzlich ist sie sogar sehr wichtig. Wenn wir wütend sind, verlieren wir den Blick für Mitgefühl und Empathie. Das rettet uns in gefährlichen Situationen, weil wir dann nicht lange darüber nachdenken, was wir tun, wenn wir angegriffen werden. Wir hauen drauf, wir schreien, wir sind laut und sichtbar und es ist uns ganz egal, was das gerade mit dem Gegenüber macht, hauptsache wir sind geschützt.
Sie hilft uns auch dabei, Dinge loszuwerden, die uns belasten. Wir entfernen uns eher von Menschen, die uns nicht gut tun, wenn wir wütend auf sie sind.
Wut kann also eine große Hilfe in unserem Leben sein.
Sie kann aber auch sehr viel zerstören. Wut macht Angst. Das sollte sie eigentlich auch – aber nur, wenn wir angegriffen werden und uns verteidigen müssen. Nur leider differenziert unser Gehirn nicht, ob da gerade ein Säbelzahntiger vor uns steht, oder ein kleines Kind. Unser Gehirn und unser Körper reagiert auf die Hormone, die in der Wut freigesetzt werden, alles andere wird ausgeblendet.
Sicher sind wir meistens in der Lage zu sehen, wer da vor uns steht. Das heisst aber nicht, dass wir auch immer so reagieren können. Deshalb gebe ich euch heute ein Bild in die Hand.
Stellt euch vor, das Band zwischen euch und euren Kindern ist ein Seil
Stellt euch also vor, das Band zwischen euch und euren Kindern (und generell den Mitmenschen, ich konzentriere mich aber hier auf die Kinder) ist ein Seil. Es ist ein sehr dickes, starkes Tau, wie von einem großen Schiff. Es hält sehr viel aus, kann gedehnt und gespannt werden, ist mal länger und mal kürzer, aber immer da. Auch wenn unsere Kinder schon groß sind, vielleicht bereits eine eigene Familie haben, ist dieses Seil noch da. Es ist unsere Verbindung zueinander.
Wir als Elter haben es in der Hand, wie stark diese Verbindung ist. Und immer, wenn wir wütend auf unsere Kinder sind und ihnen wehtun, egal ob es mit Schlägen und Prügeln ist, oder mit Worten, Abwertungen, Strafen und Konsequenzen, benutzen wir die Schere und schneiden an dem Seil rum.
Wie schon gesagt ist das Seil sehr dick, es hält eine Menge aus. Aber jeder Schnitt hinterlässt Spuren und zwar immer.
Die Wut können wir nicht immer kontrollieren. An einem stressigen Tag, der schon morgens mies anfängt und sich den ganzen Tag lang weiter mies hält, platzt uns einfach irgendwann der Kragen. Das ist normal und menschlich. Wir übersehen dann die kleinen Dinge, die unsere Kinder für uns gemacht haben. Denn sie kooperieren grundsätzlich immer mit uns – im Rahmen ihrer Möglichkeiten, die je nach Alter mehr oder weniger vorhanden sind. Und auch die Ressourcen unserer Kinder sind begrenzt.
Nehmen wir also so einen Tag, und abends, kurz bevor die Kinder ins Bett sollen und der langersehnte Feierabend in Griffnähe ist, schmeisst ein Kind ausversehen ein volles Glas um. Alles ist voller Wasser, der Tisch, der Boden, die Kinder. Das Kind weint vor Schreck und weil es nass ist, das andere fällt mit ein, der Hund stürmt in die Pfütze und verteilt alles noch richtig schön auf dem Teppich.
BUMM.
Ich glaube, dann würde selbst ein Zen Meister explodieren.
Ihr habt jetzt die Schere in der Hand. Sie ist plötzlich sehr groß und glüht hellrot.
„VERDAMMTESCHEISSEWARUMKANNSTDUNICHTAUFPASSEN???“ hören wir uns schreien. Das Kind weint noch mehr. Während ihr die Katastrophe trocknet, den Hund aus der Küche schmeisst (und er das Wasser halt jetzt im Wohnzimmer verteilt und sich freut), geht es weiter: “Hundertmal habe ich dir gesagt, du sollst aufpassen!! Wieso hast du das Glas überhaupt so voll gemacht? Jetzt muss ich euch noch umziehen, kannst du nicht wenigstens EINMAL etwas vorsichtiger sein? Schau dir an, was du angerichtet hast!!!“ usw.
Die Schere schneidet fröhlich mit jedem Satz in das Seil. Schnipp, schnipp, schnipp.
Okay, betrachten wir das mal nüchtern. Hat euer Geschrei und Geschimpfe die Pfützen getrocknet? Hat es die Zeit zurückgedreht und das Glas ist nie umgekippt? Hat es euer Kind getröstet? Hat es irgendetwas gutes getan?
Nein?
Stimmt.
Es hat sogar alles noch verschlimmert. Das Kind fühlt sich eh schon Hundeelend, weil es das Glas umgekippt hat (und es einfach weiss, dass das Mist war), jetzt fühlt es sich noch schlechter, weil ihr noch einen Obendrauf gegeben habt und es abgewertet habt („kannst du nicht wenigsten einmal vorsichtig sein?“) und laut geschimpft habt. Das macht nämlich Angst. Zusätzlich fühlt ihr euch wahrscheinlich ebenfalls mies, wenn die Wut verraucht ist. Weil ihr auch wisst, dass es Mist war. Und so rein gar nichts geholfen hat.
Vielleicht reagiert ihr normalerweise besser und anders. Vielleicht seid ihr sonst beherrschter. Und vielleicht kippt das Kind sehr selten bis nie ein Glas um.
Wenn die erste Wut weg ist, alles wieder hergestellt, spüren wir, wie das schlechte Gewissen in uns nagt. Wir entschuldigen uns, erklären, dass es nicht okay war von uns. Aber die Spuren bleiben trotzdem.
Kommt so etwas öfter vor, wird das Kind zunehmend nervöser, wenn es ein Glas vor sich stehen hat. Nervosität führt dazu, dass wir nicht 100% Aufmerksam sind und dann kann es passieren, dass das Glas tatsächlich öfter hinfällt, einfach weil das Kind es versucht, zu vermeiden.
Ein Kreislauf beginnt. So ist das mit allen Dingen, egal was. Das kennen wir von uns ja auch. Schreit uns der Chef öfter an, werden wir nervös und haben Angst, einen Fehler zu machen. Und dann machen wir erst recht welche. Weil wir uns darauf konzentrieren, keinen Fehler zu machen, statt auf das, was wir gerade tun.
Wenn es sehr oft so ist, dass Kinder angeschrien und abgewertet werden, wird das Seil mit der Zeit immer dünner. Das sind dann später die Menschen, die sich darüber beklagen, dass die Kinder sich ja nie melden. Zum Beispiel.
Ihr entscheidet, was ihr mit eurer Wut macht
Ihr habt es aber in der Hand. Ihr könnt bestimmen, was die Schere machen soll. Ihr haltet sie ja.
Da das Gehirn aber im ersten Moment nicht in der Lage ist, differenziert zu denken, müsst ihr ganz zuerst eines machen: atmen. Diese Zeit habt ihr immer. Dann ist der Teppich halt ein wenig mehr nass, ja meine Güte, das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Trocknet wieder.
Meistens sind die Dinge, wegen denen wir wütend sind, bereits geschehen. Und erfordern selten ein sofortiges Reagieren. Wir haben also Zeit. Das ist wichtig, haltet euch das vor Augen.
Also, ihr seht die Bescherung. Und jetzt atmet ihr. Einmal. Zweimal. Macht die Augen zu und blendet das weinende Kind kurz aus (glaubt mir, das Kind ein paar Sekunden(!!!) weinen zu lassen ist nicht so tragisch, wie es anzuschreien), blendet alles aus. Atmet. Ganz tief.
Die Wut wird schon weniger.
Und jetzt stellt euch diese Schere vor. In der größten Wut ist sie glühend rot und groß.
Stellt euch vor, dass ihr in der anderen Hand ein ganz tolles, selbstgemaltes (oder gebasteltes) Bild von eurem Kind habt. Es hat Stunden dafür gebraucht und sich wahnsinnig viel Mühe gegeben. Auf dem Bild sind rote Herzen mit Glitzer, ein krakeliges „Mama“ und alles, was ihr euch vorstellen könnt. Stellt euch vor, wie stolz und glücklich euer Kind war, als es euch das Bild gegeben hat.
Habt ihr das Bild? Ja?
Okay, nehmt die Schere und schneidet es in kleine Stücke.
Stellt euch vor, wie ihr, vor den Augen eures Kindes, dieses Bild zerschneidet. Stellt euch das Gesicht von eurem Kind vor. Wie die Augen erst groß werden und sich dann mit Tränen füllen. Wie verzweifelt es schaut. Wie es euch vielleicht sogar versucht, davon abzubringen, das Bild kaputt zu machen. Stellt euch vor, wie es euch anfleht, es sein zu lassen, „Bitte Mama, ich habe es für dich gemacht, ich liebe dich, bitte mach das nicht kaputt!!“.
Puh.
Fies, oder?
Jede*r normale Mensch würde jetzt sagen, wie grausam und unmenschlich das ist. Und das es niemand tun würde.
Aber genau das macht ihr mit den Gefühlen eurer Kinder, wenn ihr eure Wut ungefiltert auf sie los lasst. Genau so fühlen sie sich.
Dieses Bild kann euch aber helfen. Wenn ihr das nächste mal diese Wut spürt, denkt an die Schere. Denkt daran, dass ihr etwas sehr wertvolles kaputt macht, wenn ihr sie einsetzt. Es ist vielleicht kein Bild, was ihr zerschneidet, aber eure Verbindung und sie ist das Wertvollste, was ihr miteinander habt.
Diese Verbindung wird ein Leben lang tragen, sie ist bestimmend für das, was aus euren Kindern wird und wie sie werden. Sie kann die Welt verändern, wenn sie stark und sicher ist. Das habt ihr in der Hand.
Also, wenn ihr wieder wütend seid, warum auch immer, schließt die Augen. Atmet.
Stellt euch in der einen Hand die Schere vor und in der anderen das Bild.
Und dann entscheidet, ob ihr beides zur Seite legt oder die Schere einsetzt.
Wenn die erste Wut verraucht ist, können wir wieder emphatisch und voller Mitgefühl reagieren. Dann sind wir in der Lage, die Verzweiflung des Kindes zu sehen. Wir trösten es, fangen es auf und stärken das Seil.
Vielleicht hilft es uns beim trocken machen mit, vielleicht lässt es sich leichter umziehen. Ganz sicher aber nimmt es keinen Schaden, sondern weiss, ihr seid immer für das Kind da – auch wenn es mal etwas macht, was nicht super ist.
Und was gibt es wichtigeres, als unseren Kindern durch solche Sachen unsere Liebe zu zeigen?
Ich bin Melanie, Mutter von drei großartigen Kindern und versuche grundsätzlich die Welt zu retten. Auf meinem Blog Ein Blog Buntes schreibe ich über Bedürfnisorientiertes Leben, was für mich nicht nur eine „Erziehungs“methode bedeutet, sondern eine generelle Methode, in Verbindung mit meinen Mitmenschen zu treten, die Achtsam, Wertschätzend, Respekt- und Liebevoll ist. Deshalb gibt es bei mir alle möglichen Themen, von der Begegnung mit unseren Kindern, über (vegane und vegetarische) Rezepte, bis hin zur Betrachtung unterschiedlicher Dingen, die in unserer Gesellschaft in eine große Schieflage geraten sind. Ich will vor allem auf letztere Aufmerksam machen, um vielleicht ein Umdenken zu ermöglichen.
Liebe Melanie,
danke für dieses gelungene Bild mit der Schere und dem Seil.
Mir gefällt dein Schreibstil sehr und ich werde ganz sicher auf deinem Blog vorbeischauen. Die veganen Rezepte sind das i-Tüpfelchen ?
Liebe Grüße
Jenny
Liebe Jenny, vielen Dank für diese tolle Rückmeldung ❤️ es freut mich, dass Dir der Artikel gefallen hat und Du bist natürlich herzlich willkommen auf meiner Seite ?
LG
Melanie