(Gastbeitrag) Zeichen erkennen – Ist mein Kind hochsensitiv?
| Gastbeitrag von Monika Bock
Die zweijährige Lilly sitzt weinend am Boden in ihren Kinderzimmer und zerrt, schwankend zwischen Wut und Verzweiflung, an ihrer Strumpfhose. Die Mutter, schon spät dran, die Kleine in den Kindergarten zu bringen, versucht sie zu überzeugen, dass „die Strumpfhose eine ganz tolle ist, und sie die ja schon oft anhatte“, und doch auch „lauter süße Kätzchen darauf sind“. Irgendwann ist Lilly so erschöpft, dass sie aufgibt und sich fertig anziehen lässt für den Kindergarten. Auf dem Weg dorthin jammert sie immer wieder, dass die Strumpfhose weh tut. Im Kindergarten versucht sie sie sich auszuziehen und wird von der Erzieherin ermahnt.
Der Tag ist für alle Beteiligten ein frustrierender, anstrengender.
Und eigentlich hat sie bei der Strumpfhose doch nur die Naht vorne an den Zehen gedrückt, das kann sie aber noch nicht so genau ausdrücken.
Es ist nicht das erste Mal, dass Lilly so reagiert. Sie verweigert zum Beispiel cremige Speisen, ist ein bisschen schreckhaft, zieht sich bei Familienfeiern eher zurück. Kann sich beim Spielen völlig in ihrem Tun verlieren. Beim Spazierengehen bemerkt sie den winzigsten Käfer, hört das leiseste Geräusch.
Lilly ist hochsensitiv, ein Wesensmerkmal das sie mit rund 15% bis 20% aller Kinder gemeinsam hat.
Was ist Hochsensitivität und wie erkennen wir HSP überhaupt?
Zuerst mal, was ist Hochsensitivität? Der Begriff HSP wurde in den 90er Jahren von einer amerikanischen Psychologin und Psychotherapeutin geprägt und steht für Hyper Sensitiv Person, oder im deutschen Hoch Sensitive Person.
Dieses Wesensmerkmal ist nur vererbbar, meist direkt auf die nächste Generation, kann aber auch schon mal eine Generation überspringen, oder nur sehr gering ausgeprägt sein. Es kommt bei weiblichen und männlichen Personen gleichermaßen vor. Rund Zwei Drittel der HSP sind introvertierte Persönlichkeiten.
HSP kann man nicht diagnostizieren, es ist keine Krankheit, sondern ein Wesensmerkmal in der Verarbeitung von Sinnesreizen. HSP haben keine besseren Sinne als „normal“ Fühlende, aber ihre Sinnesverarbeitung ist intensiver und länger andauernd. Im Normalfall prasseln die Reize auf einen Menschen ein und das Filtersystem in Gehirn lässt nur die gerade wirklich wichtigen Reize in das Bewusstsein eindringen. Bei hochsensitiven Menschen ist diese Filtersystem wesentlich durchlässiger und dadurch sind ihnen gleichzeitig viel mehr Sinneseindrücke bewusst -und diese müssen auch verarbeitet werden.
Stellen sie sich eine Familienfeier vor. Sie kommen dort an, betreten die Wohnung und ihr Kind wird mit Sinnesreizen überschüttet die es nicht differenzieren kann. Es dringen ungebremst Stimmen, Emotionen, nonverbales, Gerüche, Lichteindrücke, vielleicht auch noch eine völlig neue Umgebung zu dem kleinen Wesen durch. Und im selben Moment wird es auch noch umarmt, geknuddelt, angesprochen und so weiter.
Das ist für jedes Kind schon eine gewisse Herausforderung, aber ein hochsensitives Wesen fühlt sich erstmal erschlagen, und versucht zu flüchten, weil es einfach zu viel auf einmal ist.
Woran lässt sich Hochsensitivität bei Kindern erkennen?
Ich bin sehr vorsichtig in diesem Zusammenhang von absolut typischen Anzeichen von Hochsensitivität zu sprechen. Dieses Wesensmerkmal ist so vielfältig, zeigt sich in so vielen Varianten, dass man es nicht an ein paar Merkmalen festmachen sollte.
HSP haben keine besseren Sinne als „normal“ Fühlende, aber ihre Sinnesverarbeitung ist intensiver.
Hier ein paar sehr häufige Eigenheiten die auf Hochsensitivität schließen lassen:
- Verweigert das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken (Material, ein einengender Schnitt, kratzende Reißverschlüsse, unangenehme Nähte…)
- Verweigert Fingerfarben oder matschige Sachen
- Erschrickt bei schnellen Bewegungen
- Generell eher schreckhaft
- Mag es nicht wenn die Füße keinen Bodenkontakt haben
- Ist von Reizen schnell überfordert (TV, Licht, Lärm, Hitze, Gerüche, viele Menschen…)
- Fühlt sich unter vielen Menschen nicht wohl
- Sucht eher Eins zu Eins Kontakte
- Zieht sich gerne mal zurück in eine ruhige Ecke
- Nimmt kleinste Details wahr (In Bildern, Geschichten, in der Natur…)
- Kann völlig im Spielen versinken, bekommt nichts mehr vom Rest der Welt mit
- Vermeidet bestimmte Konsistenzen beim Essen
- Liebt das Essen als „Trennkost“, nicht vermischt
- Hat Probleme mit Veränderungen (neues Bett, neue Betreuungspersonen, Essen, das es noch nicht kennt…)
- Agiert eher vorsichtig
- Macht sich oft Sorgen
- Hat hohe Erwartungen an sich selbst
- Hilft gerne anderen
- Abneigung gegen Gewalt
- Bezieht vieles aus der Umgebung auf sich (Bsp. Lehrer maßregelt ein anderes Kind, ihr Kind fühlt sich aber trotzdem angesprochen und betroffen)
- Empfindet Gefühle wie Wut, Freude, Trauer sehr intensiv
- Sehr empathisch mit Menschen und Tieren
- Handelt sehr intuitiv (oft im ersten Moment für die Eltern nicht nachvollziehbar, für das Kind aber völlig logisch)
- Interessiert sich sehr wie das Leben funktioniert, will Zusammenhänge verstehen
- Kann sich schwer entscheiden
- Interessiert sich für viele unterschiedliche Dinge
- Neigt dazu sich Selbstvorwürfe zu machen
- Braucht als Baby Rituale und eine immer gleiche fixe Tagesstruktur
- Sucht als Baby ständig die körperliche Nähe
- Ist als Baby oft sehr unruhig und lässt sich nicht gerne ablegen
Hochsensitive Kinder und ihre Potenziale verstehen
Oftmals werden hochsensitive Kinder von ihrem Umfeld als anstrengend, mäkelig, wahlweise als in sich zurückgezogen, aggressiv, überdreht beschrieben.
Als anstrengend werden sie oft empfunden, da sie genau wissen was sie wollen und was nicht. Auch wissen sie ganz genau, was ihnen unangenehm ist und verweigern das dann sehr vehement. Dieses Verhalten passte nur leider des Öfteren nicht mit den Vorstellungen des Umfeldes oder den gängigen gesellschaftlichen Konventionen zusammen.
Befasst man sich auf Augenhöhe mit den Wünschen des Kindes, wird man merken, dass diese aus einem anderen Blickwinkel heraus, nämlich aus dem der Hochsensitivität, absolut nachvollziehbar und berechtigt sind.
Das mäkelig sein betrifft meist das Essen. Es schaut auf den ersten Blick auch so aus als wären sie extrem heikel, das hat aber einen guten Grund. Da sie Reize viel stärker wahrnehmen erleben sie auch Gerüche, Konsistenzen, Geschmäcker und in weiterer Folge auch, wie sich der Körper nach dem Essen fühlt, viel intensiver. Das heißt, auch Essen ist für diese Kinder eine sehr intensive Erfahrung, an die sie sich erst Stück für Stück herantasten.
Überdreht sein, Aggressionen, Rückzug wiederum sind häufig Reaktionsweisen auf Überforderung, wenn sie es nicht mehr schaffen, die Reize, die auf sie einströmen, zu verarbeiten.
In Kindergarten und Schule wird ihnen oft vorgeworfen unaufmerksam zu sein. Ganz im Gegenteil, ihre Aufmerksamkeit liegt überall, ob sie wollen oder nicht.
Ein hochsensitives Kind ist ständig auf Empfang geschaltet, das braucht viel Kraft und Energie. Damit es damit gut zurecht kommt braucht es Ausgleich in Form von Ruheoasen und viel Entscheidungsfreiheit.
Herauszufinden, was ein Kind wirklich braucht um sich ausgeglichen, entspannt und fröhlich entwickeln zu können, stellt viele Eltern oft vor eine gewaltige Herausforderung.
Beobachten sie ihr Kind, hören sie ihm zu, respektieren sie seine Wahrnehmung, nehmen sie sich Zeit mit ihm gemeinsam einen Weg zu finden. Ermöglichen sie ihm Freiraum bei Entscheidungen.
In hochsensitiven Kindern verstecken sich wunderbare Potentiale.
Sie haben ein extrem vernetztes Denken, durchschauen Zusammenhänge sehr gut und brauchen diese Zusammenhänge auch um die Welt zu verstehen. In vielen Fällen liegt auch eine Hochbegabung vor. Sie sind sehr eigenständig und sehr selbstbestimmt. Wenn sie eine Tätigkeit als sinnvoll erachten, sind sie mit Feuereifer dabei. Ihr Gespür für Menschen ist hervorragend.
Diese Potentiale können sie aber erst nutzen, wenn ihre Hochsensitivität wertgeschätzt und ihr Raum gegeben wird. Ihr Kind kann und weiß mehr als sie denken, erlauben sie sich, ihm zu vertrauen!
Herzliche Grüße, Moni Bock
Ich bin Monika Bock. Meine Hochsensitivität habe ich in unterschiedlicher Ausprägung an meine drei wundervollen Kinder vererbt.
Ich hatte schon als Kind immer das Gefühl, anders zu sein, keinen Anschluss zu finden, mehr zu erkennen als andere. Ich hatte auch schon immer mehr Interessen als andere. Das hinter all dem Hochsensitivität und eine Scanner-Persönlichkeit stecken, wurde mir erst bewusst, als eine Neurologin bei meiner Jüngsten feststellte, dass sie hochsensitiv ist.
Als Coach unterstütze ich heute Familien und Einzelpersonen bei Fragen zur Hochsensitivität und helfe bei Problemstellungen, die sich durch dieses Wesensmerkmal im Alltag, in Schule, Beruf oder Partnerschaft ergeben können. Ziel ist es immer, dass die Menschen das Positive an ihrer Hochsensitivität erkennen, schätzen und nutzen lernen. Mehr Informationen finden sie auf Bock auf HSP.
Ein großes Dankeschön an Frau Lewald, dass ich ihrem Blog einen Gastbeitrag beisteuern kann. Ich habe vor kurzem einen Artikel von Frau Lewald entdeckt, indem es darum ging, wie sie ihre Tochter „nicht erzieht“. Ich war begeistert von dem, was sie geschrieben hat, denn genau dieser Ansatz, sein Kind wertschätzend und auf Augenhöhe ins Leben zu begleiten, ist so wichtig für Kinder, damit sie ihre Persönlichkeit frei entwickeln können, im speziellen besonders für hochsensitive Kinder.