Auf Erziehung verzichten? Das funktioniert doch gar nicht!
Kann es wirklich funktionieren, dass wir auf Erziehung verzichten? Nana steht in der Tür und will, dass ich mit ins Kinderzimmer komme. ›Einmal!‹ Es ist spät und ich habe heute definitiv keine Kraft mehr fürs Spielen. Genauso sage ich meiner Tochter das auch. Nana akzeptiert das (natürlich) nicht. ›Du bist traurig, weil ich nicht mitkommen will‹, stelle ich fest. Ich stehe auf, gehe doch mit in ihr Zimmer und setze mich auf ihr Bett. Ich schaue, spiele nicht. Ich bleibe bei ihr. Lasse sie nicht alleine, aber spiele nicht mit. Nana überlegt, dann holt sie ein Buch aus dem Regal und setzt sich zu mir. Hat meine Tochter ihren Willen bekommen? Ja und Nein.
Von der Kunst, Bedürfnisse zu erfüllen
Ich habe die Not meiner Tochter gesehen und mich entschieden, mit ihr ins Kinderzimmer zu gehen. Es war ihr wichtig, und für mich gab es keinen echten Grund, mich ins Wohnzimmer, statt ins Kinderzimmer zu setzen.
Aber: Ich habe nicht mehr mit Nana gespielt, als sie das wollte. Mein Bedürfnis nach Ruhe, nach „Feierabend“ habe ich nicht übergangen.
Ich bin zugewandt geblieben UND habe Nein gesagt. In keinem Moment war ich dabei nicht in Beziehung, nicht in VERBINDUNG zu ihr. In keinem Moment habe ich erzogen. – Nicht zu erziehen, bedeutet NICHT, die eigenen Bedürfnisse (und Wünsche etc) für das Kind aufzugeben.
Selbstaufgabe ist weder Bedingung noch Begleiterscheinung von Erziehungsfrei. Im Gegenteil: Bindungsorientierung bedeutet, hinsehen, mitfühlen, abwägen und in Beziehung miteinander kooperative und kreative Lösungen finden. Entgegenkommen UND Grenzen zeigen.
Unden, Kompromisse finden, Kooperation. Alles das verlangt einen Batzen Ressourcen und uU. die Fähigkeit selber zurückzustecken. Etwas, was kleinen Kinder noch nicht können, und auch Erwachsenen häufig misslingt.
ICH kann nicht immer funktionieren. Genauso wenig N.
Auf Erziehung verzichten: Konflikte austragen – Bedürfnisse sehen – Frust begleiten
Kommt es zum Konflikt, kommt es IMMER auf das WIE an; auf die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen.
Konflikte führen zu Frust: Frust auf beiden Seiten, zweifelsohne, aber doch häufig intensiver auf der Seite meiner Tochter. Denn seien wir ehrlich, viele Konflikte sind für unsere Kinder deutlich erschütternder, als sie es für uns sind. Für uns, aus einer erwachsenen Perspektive, erscheinen uns häufig Dinge nichtig, die dem Kind gerade a l l e s bedeuten. Oft erscheint uns der Wutanfall des Kindes überhaupt nicht nachvollziehbar, und wir neigen dazu, in eine anerzogene Abwehrhaltung zu gehen.
Es ist gar nicht einfach, diesen Kreislauf zu durchbrechen.
Ich versuche, wenn ich KANN, zwar zuerst meinem Kind die Dinge, die ihr da so wichtig sind, zu ermöglichen. Manchmal geht das aber nicht.
Das kann an Schutz und Sicherheit oder den Naturkräften liegen. Oder manchmal kann es eben auch sein, dass ICH gerade einfach nicht WILL. Obwohl es theoretisch möglich wäre. Und ja, dann, manchmal, muss ich egoistisch an MICH denken. Auch das ist wichtig! Auch das müssen wir lernen und uns bewahren, wenn wir bindungsorientiert leben!
Und dann? Ich begleite dann ihren Frust.
Nur mehr hierin unterscheidet sich mein Verhalten von Erziehung: Ich erwarte NICHT von meiner Tochter, dass sie mich versteht, dass sie abnickt, nicht einmal, dass sie „einfach“ gehorcht.
Da wird befürchtet, die Kinder tanzten einem auf der Nase herum- Aber den erzieherischen Gedanken, ein Kind MÜSSE FREIWILLIG nach der Nase der Eltern tanzen, wo doch dieselben Eltern nie nach der Nase der Kinder tanzen wollen, verstehe ich nicht. Meine Tochter muss nicht gut finden, was ich entscheide. Sie muss nicht ›ohne Wenn und Aber‹ folgen.
Sie kann wüten. Sie kann weinen. Sie kann mir ihre Gefühle mitteilen. Nichts anderes tut sie nämlich.
Und ich kann zuhören. Da sein.
Wenn ein Kind wütet oder weint, halten Eltern oft ihren Kindern weiter vor, was da gerade NICHT geht, und dass es das jetzt doch ENDLICH akzeptieren solle. Die Forderung ist Gehorsam und stillschweigende Folgsamkeit. Und jedes Mal frage ich mich, warum? Das Kind hat verstanden, sonst würde es ja gar nicht wütend sein. Aber er*sie findet die Entscheidung blöd, und zeigt, wie wichtig es ihm*ihr dennoch WÄRE.
Es braucht keine Vorhaltung. Keine Drohungen.
Es braucht Liebe! Eine Umarmung! VERSTÄNDNIS! DAS ist es, was meinem Kind hilft, mit den Gefühlen umzugehen. Zuhören. Da sein.
Da funktioniert doch gar nicht? Über Erwartungen
Und dann siehst du mich. Wie ich am Spielplatz vor meinem Kind hocke, sie wütet und haut, und ich leise zu ihr Rede, ihre Hände abfange, mit ihr warte, bis ihre Wut abklingt. Du siehst mich nicht schimpfen. Nicht sagen, dass es ›jetzt aber mal gut ist‹. Du denkst dir, dass ich mein Kind nicht im Griff habe. Dass die Szene der Beweis ist, dass DAS nicht funktioniert.
Familienleben ist nichts, was „funktioniert“. Da ist die Vorstellung in unseren Köpfen, Erziehung(sfrei) müsste irgendwie funktionieren, einen (positiven) Effekt, ein Outcome, haben. Ein braves, starkes, schlaues Kind?
Mir wurde tatsächlich schon mal vorgeworfen, mein Kind wäre ja gar nicht ›so toll unerzogen‹. Nana würde ja gar nicht kooperieren. Sie würde ja gar nicht entspannt sein, sondern trotzdem ständig schreien und ›bocken‹. Erziehungsfrei würde gar nicht funktionieren, warf man mir vor, und mein ›Weichspülgerede‹ könnte ich mir auch sparen, es bringe doch nichts.
Wo sei denn der Unterschied, der MEHRwert zur Erziehung? Wenn die Kinder genauso, oder noch viel mehr, „unartig“ sind. Ist Erziehung nach hinten raus nicht doch lohnender?
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Falls es nicht klar war: Auf Erziehung verzichten macht keine 24/7 Familienharmonie. Ich würde nicht so oft von Frustbegleitung schreiben, wenn es so wäre. Nana hat einen starken Willen, den ich ihr nicht immer erfüllen kann. Einen Willen, den sie hat, unabhängig davon, ob ICH erziehe(n würde) oder eben nicht. Sie steckt mitten in der Autonomiephase.
Erziehen oder nicht Erziehen ändert nichts daran, DASS wir Konflikte haben, und auch nichts daran, wie mein Kind sich ausdrückt. Es ändert nur die Art und Weise, wie ICH mit den Konflikten umgehe. (Und eventuell die Häufigkeit, weil wir nicht aus jeder Idee ein Problem machen.)
Der Gedanke, mein Kind ›bockt‹ und ›trotzt‹, TROTZDESSEN ich sie ja gut behandle; der Gedanke, unerzogen FUNKTIONIERE also GAR NICHT, resultiert aus einem Gedanken, der erzieherischer nicht sein könnte: Ein Verzicht auf Erziehung, DAMIT mein Kind empathisch, brav und kooperativ etc wird (weil ich ihr das ja so total toll vorlebe oder so).
Nur: So läuft das nicht. Unerzogen hat KEIN Ziel.
Erziehung hat Ziele, der Verzicht auf Erziehung hat aber gerade KEINE.
Auf Erziehung verzichten: Werden unerzogene Kinder Tyrannen? BEITRAG LESEN
Ein Weg ohne Ziel? Warum es gar nicht ums „funktionieren“ geht, wenn wir auf Erziehung verzichten
Nicht zu Erziehen bedeutet, sich das Kind NICHT zum Projekt machen, das so und genau so WERDEN soll. Sondern: Das Kind anzunehmen, wie es IST. Mit Ecken und Kanten.
Ich begleite meine Tochter. Ich bin ihr ein Orientierungspunkt. Aber nicht die Zugschnur, die sie auf Holzbrettern bis zum Geburtstag X auf einem (meinem!) Weg festhält. Ich versorge und schütze mein Kind. Und natürlich beeinflusse ich mein Kind IMMER auf die ein oder andere Weise, aber niemals nehme ich es mir zum Ziel, sie gewaltsam zu formen.
Erziehungsfrei bedeutet für mich, Eigenarten anzunehmen. NUR wenn ich offen bin für ihr anders sein, kann ich meine Erwartungen ablegen.
Dazu gehört auch anzunehmen, dass mein Kind wütet und ihren Frust auf ihre Art zeigt. – Dass ich ihre Gefühle verbalisiere und ihr empathisch begegne, heißt nicht, dass SIE das auch schon kann, oder können MUSS.
Auf Erziehung verzichten ist keine neue Trendsetter Methode, die „funktioniert“, um dein Kind schneller zu einem empathischen Menschen zu machen. Es kann zwar sein, dass deine Kinder sich was von dir abschauen, aber Erziehungsverzicht mach keine entspannten Kinder.
Okay. Nobody ist ohne Zukunftserwartungen. Natürlich habe ich die HOFFNUNG, mein Kind nimmt von alldem etwas für sich mit. Natürlich hoffe ich, dass sie kooperiert. Natürlich hoffe ich, dass sie sich Ehrlichkeit und Pünktlichkeit abschaut. Und dass sie weiterführt, was ich bei ihr angefangen habe. Noch besser als ich vielleicht. Aber die knallharte Wahrheit ist: Ich stecke da nicht drin. Es ist ihr Kopf. Ihr Körper. Ihr Leben.
Da ist nicht was „funktioniert“. Keine Garantie.
Ich KANN nur hoffen.
Eigentlich können wir immer nur hoffen. Lediglich Erziehung nimmt sich das seltsame Recht heraus, aus einem anderen Menschen jemand zu machen. Jemand, der*die nicht nur HOFFENTLICH so wird, wie der*die Erziehende es sich vorstellt, sondern dazu aktiv GEMACHT werden soll.
Wenn Nana nicht kooperiert, wütet, haut, dann ist das zwar frustrierend FÜR MICH in diesem Moment, aber es bedeutet nicht, dass nicht erziehen „nicht funktioniert“. Weil es darum einfach gar nicht geht. Weil Nana einfach ist, wie sie nun mal ist. Ich muss meine Tochter annehmen, so wie sie mich annehmen muss. Wir sitzen in dem selben Boot.
Zu Erziehen oder Nicht zu Erziehen ist vor allem vielleicht eine Entscheidung für oder eben gegen die Vorstellung eines funktionierenden Kindes, das wie ein Uhrwerk „richtig“ läuft, dass gehorsam und artig ist.
Unerzogen funktioniert nicht. Genauso wenig wie Kinder funktionieren. Es ist eine Haltung, eine Überzeugung. Ein JA zum Kind, wie es ist. Ein JA zu den Konflikten im Familienleben, und die Bereitschaft die Konflikte zu lösen, ohne dass nur eine*r per se das sagen hat -wenn es auch anders geht.
| Fiona
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