Warum wir unsere Kinder nicht zu Höflichkeit erziehen müssen
Höflichkeit ist ein wichtiger Wert in unserer Gesellschaft. Begrüßung. Benehmen. Auftreten. Die ständige Bewertung des Verhaltens anderer ist uns anerzogen. Umso wichtiger finde ich es, aus dieser Spirale auszusteigen, die uns leider oft dazu bringt, unsere Kinder in vorgeformte Muster pressen zu wollen und sie zu verurteilen, statt auf die Gründe hinter einem ›unerwünschten‹ Verhalten zu blicken.
Der Grundstein für einen (vor)urteilsfreieren Blick auf das Benehmen Anderer und insbesondere unserer Kinder, ist das Loslassen Von Erziehung UND unseren Erwartungen.
Wie immer gilt aber: Das hier ist MEIN Weg.
Es muss nicht dein Weg sein oder werden.
Höflichkeit bei Kindern: schon ein Gesellschaftlicher Maßstab
Versteht mich nicht falsch: Ich schätze höfliche Menschen. Ich bemühe mich selbst, höflich zu sein, weil ich einen positiven Eindruck hinterlassen will.
Ich sehe aber auch Menschen, die wegen ›falschem‹ Benehmen anecken und nie richtig ankommen, keine Chance bekommen, obwohl sie es verdient hätten. Besonders Kinder, die unsere Höflichkeitskonventionen ja erst noch begreifen lernen, leiden darunter, wenn sie dauernd missverstanden, korrigiert, geschimpft werden.
Was ist das Problem?
„Un-höflichkeit“ fällt auf, denn sie verstößt gegen die gesellschaftliche Konvention, der wir alle zustimmen, wenn wir uns (bewusst) dazu entscheiden, kein Einsiedlerleben zu führen. Ein unhöflicher Mensch fällt aus der Masse heraus und zieht auf Dauer nicht selten den Ausschluss aus der moralischen Gutheißung seiner*ihrer Umwelt mit sich. Wer nicht höflich ist, oder es zumindest beherrscht höflich zu spielen, der*dje eckt an, der*die hat es schwieriger im Leben.
Das ist erstmal einfach so. Dagegen können wir einzeln wenig unternehmen.
So wichtig Höflichkeit also als soziales Tool ist, so logisch scheint es also, Höflichkeit beizubringen, anerziehen zu müssen. Logisch ist das vielleicht, aber mMn unnötig. Vielleicht auch unmöglich. Und im schlimmsten Fall vielleicht sogar eher kontraproduktiv.
Vorleben Statt Erziehen
Natürlich wünsche ich mir, dass mein Kind angemessen höflich wird. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass es mich nicht peinlich berührt, wenn N der freundlich winkenden Bäckersfrau, die ihr gerade noch ein Brezel geschenkt hat, nicht zum Abschied dankend zurück winkt. Schließlich gehört sich das so.
So habe ICH es auch gelernt.
Die Erwartungen sind da, dabei ist mein Kind noch keine zwei Jahre alt, und mit unseren gesellschaftlichen Konventionen maximal minimal oberflächlich vertraut.
Um ehrlich zu sein, finde ich es erschreckend, was wir schon alles automatisch von einem so kleinen Menschen verlangen. Da gehört so viel dazu. Jeden Tag wird neues gesehen und verstanden. Höflichkeitsfloskeln hingegen stehen in der persönlichen Prioritätsliste meiner Tochter vermutlich ziemlich weit hinten an.
Besonders dann, wenn es sich um Interaktion mit FREMDEN handelt. Die ja tatsächlich der eigentlichen Maßstab sind: Ob mein Kind mir Danke sagt, ist relativ, ob sie es bei anderen tut, der Shit.
Ich habe keine Angst davor, dass meine Tochter, weil ich sie nicht dazu erziehe, ein unhöflicher Mensch wird. Ich empfinde aber manchmal Scham wegen der Reaktionen der meisten Anderen. Aber das ist MEIN (anerzogenes!) Problem, nicht das meines Kindes.
Mein Kind ist einfach noch nicht so weit.
Können wir Höflichkeit erziehen?
Die Sache ist die: Ich bin mir sicher, dass Höflichkeit überhaupt nicht anerzogen werden muss; geschweige denn tatsächlich erzogen werden KANN, ist es doch ein inner Wert, eine Einstellung.
Was wir wohl anerziehen können, und was die meisten Eltern eben auch tun, ist die Verwendung von Höflichkeitskonventionen. Floskeln, die Höflichkeit repräsentieren, unabhängig von der tatsächlichen inneren Haltung. Bei Kindern zählen hierzu insbesondere: Bitten/Danken, Teilen, um Erlaubnis Fragen, nicht dazwischen Sprechen und eine m Begrüßung/Verabschiedung.
Ich verzichte darauf, meine Tochter in ihrem sozialen Verhalten aktiv in situ zu beeinflussen, sie also gezielt zur Höflichkeit anzuhalten und also zu erziehen (maßregeln). Ich fordere sie nicht auf, Dinge zu sagen oder zu tun, die sie (gerade) nicht sagen oder tun will,.
Das heißt nicht, dass ich sie nicht, wenn die Verkäuferin in unserer Backstube voller Erwartungen winkt, durchaus frage, ob sie zurückwinken mag, aber ich übe keinen Druck aus, nehme nicht ihre Hand und winke mit ihr, zwinge nicht .
ICH erwarte ihr Winken nicht. Ich lasse meiner Tochter die Wahl.
Wenn N sich bei der Oma für das Geschenk also nicht bedanken will, dann muss sie das auch einfach nicht tun. Ich nehme es ihr deswegen auch nicht wieder weg. Und ich werde an das Verständnis ihrer Oma plädieren, dies ebenfalls nicht zu tun. Warum? Weil ich statt nach Konvention zu erziehen, statt von einem Kleinkind Konventionen zu erwarten, lieber hinschaue. Ist mein Kind vielleicht schon so in das neue Spielzeug vertieft, dass das Bedanken für sie zur Nebensache wird? Und seien wir doch mal ehrlich: Ist Freude in vielen Fällen nicht schon Danke genug?! Warum reicht uns DAS bei unseren Kindern oft nicht aus? – Vielleicht ist meine Tochter auch einfach abgelenkt. Vielleicht ist sie mit der Oma im Konflikt oder schüchtern? Oder ihr gefällt das Geschenk nicht. Ich kann, wenn nötig, auch das Gespräch suchen, erklären, klären, alles auf Augenhöhe.
Aber ich werde mein Kind nicht erziehen.
Wie höflich bist du, wenn dein Kind (nicht) dabei ist? Höflichkeit vorleben
Ich lebe Höflichkeit vor , und lasse N das Tempo, das sie braucht, um einzelne Höflichkeitsfloskeln zu verstehen und nach eigenem Ermessen anzuwenden.
Einen klaren Vorteil, den ich darin sehe: Meine Tochter plappert nicht nur nach, weil ICH es ihr auftrage, sondern sagt, bitte, danke, bye, weil SIE WILL.
Ich möchte an dieser Stelle nochmal erwähnen, weil ich dies nicht oft genug tun kann, dass der Verzicht auf Erziehung sich gegen einen eindeutig definierten Erziehungsbegriff wendet – Vorleben, Kommunizieren und Begleiten, gehören nicht dazu! Dass ich Nana nicht zur Höflichkeit erziehe, heißt also NICHT, dass ich ihr nicht vorlebe höflich mit Anderen in Kontakt zu treten, oder ihr natürlich erkläre, warum jemand etwas sagt oder sich in einer bestimmten Weise verhält. Natürlich werde ich meiner Tochter beizeiten erklären, dass es üblich ist, sich die Hand zu geben, Erwachsene zu Siezen und älteren Menschen einen Sitzplatz anzubieten. Aber das zeige ich vor allem durchs Vorleben, einfach weil es für mich selbstverständlich ist.
Menschen sind soziale Lebewesen. Wir streben es jederzeit an, dazuzugehören, miteinander zu interagieren, und passen uns beinahe automatisch an soziale Gruppen an.
Aus diesem natürlichen sozialen Instinkt heraus sind Kleinkinder tatsächlich hochgradig kooperativ. Sie WOLLEN dazugehören, mehr als ein Mensch in jedem anderen Alter, denn das Dazugehören sichert ihr Überleben – und die Liebe ihrer Bezugspersonen. Manchmal schaffen sie es nur nicht.
Ich vertraue in die wachsende soziale Kompetenz meiner Tochter.
Gemäß dem literarischen Motto ›show, dont tell‹, sage ich N also nicht, was sie tun soll, aber ich zeige ihr einfach, wie ICH es gut fände, indem Ich es ihr jeden Tag, bei jeder Interaktion authentisch vorlebe. Es ist dann natürlich ihre Entscheidung, was sie daraus macht.
Bitten, Danken und Verabschieden
Zwei Beispiele.
Danke sagen ist so ziemlich die wichtigste Höflichkeitspraktik, die Kinder in unserer Gesellschaft möglichst früh beherrschen sollen. Schon Kleinkinder werden gefragt ›Was sagt man da?‹ und sollen das Zauberwort sagen (Abrakadabra nicht wahr?).
Wenn ich meiner Tochter etwas gebe, erwarte ich kein Danke. Es ist okay, dass sie es nicht sagt. Und wenn sie anderen das Danke schuldig bleibt? Dann bedanke ICH mich. Nicht anstelle meines Kindes, um ihre ›Unfähigkeit‹ zu Überblenden oder sie zum Nachplappern anzuhalten , sondern aus Dankbarkeit. – Ich LEBE meiner Tochter Dankbarkeit vor.
Ich MACHE ihr NICHT die Floskel vor, um sie zum Nachmachen aufzufordern. Dieser Unterschied mag klein sein, aber er ist wesentlich.
Ähnlich verhält es sich mit Begrüßung und Verabschiedung. N ist NUN SCHEINBAR in einem Alter, indem die Verwandten, ebenso wie die Nachbarn erwarten, dass sie ihnen zuwinkt. Vor allem bei Fremden nervt mich das schon sehr. Nana fremdelt nämlich, und die Wenigsten Leute haben dafür so richtig Verständnis. – Generell ist das mit dem Winken nämlich gar kein Problem. Sie winkt uns zu, winkt sogar dem Spielplatz und den Bäumen und den Steinen, wenn wir nach Hause gehen.
Es liegt also gar nicht daran, dass mein Kind nicht in der Lage wäre, sich zu Verabschieden, sie WILL es einfach nicht. Sie hat Angst. Sie hat keinen Bezug zu dieser Person.
Und das ist nun mal voll okay für ein kaum zwei Jahre altes Kind.
Beizeiten, dann wenn sie kognitiv so weit ist, wird sich das ändern. Sie wird mehr von den Erwartungen und den Höflichkeitshandlungen unserer sozialen Welt begreifen. Der netten Dame an Opas Arbeitslatz hat sie vor ein paar Tagen zum Abschied völlig unerwartet die Hand gegeben, als sie ihr diese hinhielt. Einfach so, weil es für Nana in diesem Moment okay so war.
BEziehungsarbeit, statt Erziehung zur Höflichkeit
Das kommt alles von alleine, ganz bestimmt, aber eben erst dann, wenn meine Tochter selber so weit ist. Und dann sind ihre Dankesworte und ist ihr Winken und Händeschütteln eine Kompetenz, die mit echten Verständnis einhergeht. Ihr Handeln ist dann ehrlich, nicht erzieherisch geformt.
Aber was ist, wenn ein älteres Kind nicht Danke sagt, nicht die Hand geben will, und dazwischen redet, obwohl es kognitiv mittlerweile weit genug sein sollte, soziale Erwartungen umzusetzen?
Ich glaube, dass es dafür immer Gründe gibt. Und diese Gründe haben nichts mit der fehlenden Erziehung zu tun. Wenn wir nicht bestrebt sind dazuzugehören, dann bedeutet das etwas. Dann drücken wir Menschen damit etwas aus: Frust, Wut. Sogar Langeweile. Es gibt einen auslösenden Moment für bewusstes Fehlverhalten.
Dort müssen wir hinsehen, um dort zu reparieren, wo etwas in ihrer Gefühlswelt im argen ist. Nicht mit Schimpfen noch einen drauf setzen.
Die Gründe für solch ein Fehlverhalten herausfinden, ist wichtig, was wieder zeigt, wie wichtig eine gute BEZiehung zueinander ist (denn Bundungspersonen sagen wir eher was uns beschäftigt) Eine solche strebe ich an: Eine gute Bindung zueinander, die den Anderen annimmt, so wie er ist, und keinen Zwang ausübt, auch dann nicht, wenn es um Höflichkeit geht.
| Fiona
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Vor kurzem habe ich bei einer sich bietenden Gelegenheit der Nachbarin und der mit anwesenden Tochter 6-7 Jahre/ 1. Klasse drei sehr schöne, ungewöhnliche und rare Bücher geschenkt. Ich erklärte, daß meine Fachbibliothek nun aufgelöst würde und ich mich gerne aber schweren Herzens von den Büchern trennen würde, wenn sie bei einem neugierigen und lesebegeisterten Kind ein neues Zuhause finden Die Kleine war ganz angetan und fühlte sich angesprochen. Um es kurz zu machen, die Mutter nahm die Bücher entgegen, sagte „hm“ und die beiden verschwanden in ihre Wohnung. Keine Dankeschön, keine nette Bemerkung, keinerlei Höflichkeit oder auch auch nur den Ansatz davon, die Situation auch der Tochter angemessen zu erklären und damit auch meine Gabe zu würdigen. Ich mag hier nicht aufschreiben, was die Tochter in dieser Situation alles *nicht* hat lernen können, aber die Analyse wäre lang.
Hinterher fühlte ich mich regelrecht verstört und dachte, das war doch ‚früher‘ mal anders? Da hat man doch danke gesagt und die Freude artikuliert über ein solch großzügiges Geschenk?
Warum bedanken sich viele Menschen nicht mehr? (Ist mir vorher auch schon aufgefallen, wenn ich Pakete entgegennahm, diese aufbewahrte und die Nachbarn dann diese kommentarlos mitnahmen. )
Als ganz junge Studentin habe ich in den ersten Stunden der Pädagogik-Studiums gelernt: man kann *nicht* nicht erziehen. Genauso, wie man *nicht* nicht kommunizieren kann.
50 Jahre später, nach Jahrzehnten der Arbeit mit Kindern, kann ich das nur dick unterstreichen – Ihr Ansatz ist ja weder neu noch unbekannt und ist in den gezeitigten Ergebnissen sehr gut untersucht: Er tut den Kindern nicht gut, weil sie keine Orientierung erhalten, was die gesellschaftlichen Spielregeln denn nun sind? Kinder wollen dazugehören, zu ihrer peer group und zu ihrer Familie, unbedingt. Sie bringen ihr Kind in Konflikte, die eigentlich unnötig sind.
Dafür gibt es jeweils biologische Zeitfenster, in denen die individuellen Entwicklungsschritte im jeweiligen Alter gegangen werden sollten, mit Hilfe der Eltern.
Man tut den Kindern wirklich keinen Gefallen, wenn die eigene Erziehung als „unverbogen sein “ überhöht wird – und somit implizit die Erziehung in anderen Familien als „verbogen sein“ abgewertet wird.
Sie vermitteln also bedauerlicherweise Abwertung anderer Ansichten als Wert in Ihrer Erziehung – und übersehen die eigenen Unterlassungen, die leider schwerwiegende Folgen haben.
Hallo und Danke für den langen Kommentar zu deiner Ansicht. Zunächst möchte ich sagen: Tatsächlich siehst du das ganz richtig, dass ich Erziehung mit Formung und dem metaphorischen „verbiegen“ gleichsetze. Das ist meine Kritik daran, die ich hier auf dem Blog an verschiedenen Stellen ausführlicher darstelle. – Zur Situation, die du beschreibst: Es ist sehr schade, dass die Mutter sich nicht bedankt hat. Vorleben ist eine wichtige Säule, die ich ja auch nirgendwo antaste, sondern gerade hervorhebe, wenn das vorgelebte denn authentisch ist (alles andere merken und entlarven die Kinder eh). Ich bezweifele durchaus, dass ein anerziehendes „sag Danke, sonst“ in jenem Fall etwas an der (nicht) vermittelten Dankbarkeit geändert hätte, die die Mutter hier versäumt hat zu zeigen. Wobei EINE Situation natürlich auch nicht auf jede andere schließen lässt. Vielleicht war die Mutter gerade im Stress und ihr ist nicht bewusst, wie sehr die Situation bei dir nachgeklungen hat. – Oh und: Man kann nicht nicht kommunizieren gehe ich mit. Bei Erziehung sehe ich das anders, aber das kommt auf die Definition des Begriffs an. Mann kann nicht nicht vorleben, passt eher. – Grüße, Fiona
Das hat meine Mutter auch versucht. Mein getrennt lebender Vater hatte dagegen ein viel natürlicheres Verhältnis zur Erziehung, vielleicht, weil er sich nie damit befasst hatte. Während meine Mutter z.B. so etwas sagte wie „jetzt wird gebadet“, sagte mein Vater morgens: „Wer geht als Erster in die Badewanne?“
Und während meine Mutter uns wohl nie sprachlich korrigierte, tat mein Vater das sehr wohl, aber freundlich. Ein PetPeeve von ihm war „das gildet nicht“. Aus irgendwelchen Gründen hatten mein Bruder und ich uns angewöhnt, statt „wie bitte“ „was ist los?“ zu sagen. Meine Mutter hat das einfach so hingenommen, wohl auch über mehrere Jahre. Meine beste Freundin in der Grundschule hatte dann eine Mutter, der es sehr wichtig war, dass ihr Kind sich angemessen, fast schon vornehm, verhielt und auch so sprach. Und ich fiel dabei ziemlich auf die Nase, weil beide Eltern mit mehrfach klarmachten, dass „was ist los“ Gossensprache wäre. Das hat mich sehr beschämt!
Dabei waren mein Bruder und ich eigentlich höflich, rücksichtsvoll, freundlich. Wir haben nie bewusst andere provoziert, beschämt, beleidigt, wir wollten es auch „richtig machen“, also als freundlich wahrgenommen werden.
Hätte meine Mutter uns mal frühzeitig erklärt, dass wir zufällig die falschen Worte gewählt hatten und andere Menschen hier eher so etwas wie „wie bitte?“ oder „das habe ich nicht verstanden“ gesagt hätte, wäre es zu der peinlichen Situation gar nicht gekommen.
Die peinliche Situation kann auch ein Blick im Supermarkt, eine Bemerkung von Lehrern oder Klassenkameraden oder Kindergartenkindern sein. So etwas könnte man ja einfach vermeiden, indem man dem Kind zumindest mal mitteilt, wie das Gros der Gesellschaft bestimmte Dinge, ja, bewertet, aber auch, was es erwartet. Bei der goldenen Hochzeit der Großeltern mit den Händen zu essen wäre wohl etwas, das einem Blicke einbringen könnte oder sogar missbilligende Bemerkungen. Ist es nicht unfair gegenüber dem Kind, es darauf gar nicht vorzubereiten und es quasi in die Falle laufen zu lassen, ohne zu wissen, dass überhaupt ein Fettnäpfchen möglich wäre?
Meine Mutter ist übrigens mit dem Vorleben irgendwann richtig auf die Nase gefallen. Da wurde sie dann wütend und frustriert, weil wir bestimmte Dinge nicht machten, die sie uns ihrer Meinung nach doch jahrelang vorgelebt hatten und die sie plötzlich doch erwartete.
Interessanterweise haben wir von unserem Vater sehr viel übernommen, abgeschaut, ohne, dass er es bewusst thematisiert hätte. Etwa Menschen in die Jacke zu helfen, Türen aufzuhalten für andere, Stühle zurechtzurücken, Höflichkeitsfloskeln zu verwenden. Er hat nie so etwas gesagt wie „so macht man das“ oder „Kinder, das solltet ihr euch merken“, sondern es war einfach Alltag.
Bei meiner Mutter war es eher so, dass sie Haushaltshilfen erwartete, aber man nicht einfach anfing, die Küche zu putzen, nur, weil sie das jahrelang täglich getan hatte. Im Gegenteil, man hatte das als „Mamas Arbeit“ abgespeichert. Und irgendwann gab es das große Geschrei „warum hilft keiner im Haushalt?“
Bei meinem Vater war es eher so, dass man selbstverständlich Dinge gemeinsam machte, aber weniger, weil er eine Putzfrau hatte. Geschirr abräumen, Tisch decken usw. Es war ein Unterschied, ob mein Stiefvater sagte „räum die Spülmaschine ein“ und einem dabei kontrollierend zusah oder ob mein Vater sagte, „wir müssen noch den Tisch abräumen“ und man das dann zu Dritt gemeinsam machte. Da hatte man weniger das Gefühl, eine „niedere Arbeit“ zu machen, während einer dabei auf einen wörtlich herabschaute.
Wenn wir von unserem Vater zurückkamen, wurde oft moniert, dass wir dort „viel höflicher“ gewesen wären. Irgendwie entstand diese Atmosphäre aber bei meinem Stiefvater und meiner Mutter selten, diese Gelassenheit, etwas zu tun, ohne dass es als niedere Arbeit, als Machtkampf betrachtet wurde. Bei meinem Stiefvater hatte man oft das Gefühl, es läge so eine Art Triumph darin, die Kinder zu etwas zu bringen oder wieder einen Fehler gefunden zu haben.
Vielen Dank für deinen Beitrag zum Thema wollen und möchten! Nach so einem habe ich gesucht und bin froh ihn hier gefunden zu haben. Ich habe mich schon länger mit der Frage beschäftigt und sie mir erst heute so stellen können um eine Antwort darauf zu bekommen, warum etwas so ist wie es ist (das möchten und wollen). Ich persönlich muss lernen auch das Wort „will“ zu benutzen, da mir in der Kindheit beigebracht wurde, wie du so schön beschrieben hast „das heißt möchte…“. Als unwissenden Kind ohne Hintergrundinformationen bezieht man es dann auf alles und kommt automatisch in die Bücklinghaltung (mein persönliches Empfinden). Da wieder heraus zu kommen erfordert nach vielen Jahren sehr viel Umdenken und Neulernen. Ich hätte mich gefreut so frei erzogen worden zu sein. Allerdings kann ich keinem einen Vorwurf machen. Meine Mutter hat es vermutlich nicht besser gewusst und nicht anders gelernt… und wir haben Dr. Google und können ihn alles Menschenmögliche fragen. Diese Möglichkeit gab es damals nicht. Und so liegt es auch am eigenen Ermessen was man später sein will und wie sehr man gesehen und geschätzt werden will. Ich persönlich sage mir immer „ich bin kein Nutellaglas, ich kann nicht alle glücklich machen“ und „ich heiße nicht „. Ich finde es gut das ihr Kinder so erzieht und ihnen die Wahl lasst selbst herausfinden was sie möchten/wollen und was nicht. Jemandem etwas der Höflichkeit aufzudrängen finde ich von Anfang an falsch. Durch deinen Beitrag kann ich nun die „neuen Kinder“ besser verstehen und werde es nicht mehr so persönlich nehmen, wenn jemand anders handelt als ich es erwarte oder kenne. Auch wenn es damals andere Zeiten waren, so sind wir doch „individuelle Individuen“ und sollten so behandelt werden. Und: Zeiten ändern sich! Nochmals Danke für deinen Beitrag! Er hat mir sehr geholfen mich auf meinem Weg zu verstehen und mir zu sagen warum etwas so ist wie es ist (Betrifft Erwachsene Kinder, wie auch die kleinen ;)).
Hallo, also ich bin in Sachen Floskeln wie Bitte/Danke/Entschuldigung/
GutenTag/Aufwiedersehen total auf der gleichen Welle wie du.
Meine eigenen Eltern haben mich niemals dazu angehalten und aus mir ist ein sehr höflicher Mensch geworden, würde ich behaupten. Ob ich auch ein höfliches Kind war bezweifle ich retrospektiv schon eher.
Mein Lütte fing so mit etwa 2 Jahren an Begrüßung und Verabschiedung nachzuahmen und etwas später auch mit Bitte und Danke (sporadisch). Und wenn er mich oder andere heute (mit 4) um etwas bittet oder sich für etwas bedankt, was er bekommen hat oder erleben durfte, geht mein Herz total auf. Es ist einfach echt.
Entschuldigung sagt er nicht wirklich von sich aus, da übernehme ich noch, wenn durch ihn ein anderes Kind irgendwie beeinträchtigt wird, was ich nicht ok fand.
Und seit er drei ist „erinnere“ bzw. frage ich ihn, wenn er was geschenkt bekommt von anderen, ob er sich bedanken mag. Was er dann meist auch tut, aber es fühlt sich für mich nicht wie Zwang an, sondern so, als ob er von selbst nicht drauf kommt, es dann aber gerne tut.
Wenn er mir zu fordernd im Ton („Du musst!“) ist, sage ich ihm, ich möchte, dass er mir das nochmal freundlicher / liebevoller sagt, weil ich ihm dann viel lieber helfe. Fühlt sich so ganz gut ausgewogen an, was mein Bedürfnis nach Respekt /Wertschätzung angeht und klappt auch ziemlich gut meist.
Soviel zu Floskeln und Umgangston bei uns.
Erziehen, also mehr als nur Vorleben allein, setze ich eher beim Verhalten ein: wie z.B. erst Fragen, bevor man sich etwas nimmt, was einem nicht gehört. Oder dass Hauen nicht in Ordnung ist (Die Wut natürlich schon…). Darauf achte ich schon, weil ich es meinem Kind ja nicht unnötig schwer machen will, indem ich unangemessenes Handeln nicht in gesellschaftlich akzeptablere Bahnen lenke. „Unverbogen“ hin oder her, ich entscheide mich da für mein Kind auf jeden Fall für „gesehen und wertgeschätzt“ aber gleichzeitig auch begleitet, um nicht total anzuecken oder unnötig den Unmut Fremder auf sich zu ziehen.
VLG Jitka
Hallo Jitka,
‚du muss‘ oder ‚ich will’habe ich bewusst nicht in den Beitrag mit aufgenommen, weil ich da bei Zeiten nochmal differenzierter draufschauen mag, und der ‚Umgangston des Kindes‘ in dieser Hinsicht noch überhaupt nicht relevant für uns ist. Zwergnase äußert so etwas noch gar nicht. Ich denke, dass es nicht falsch ist, zu sagen, wenn ich mich durch eine Ansprache unwohl fühle, und dies auch nicht dem unerzogen Gedanken widersprechen muss. Es geht ja im Grunde immer um das WIE. Unsere Kinder orientieren sich an uns, also müssen wir ihnen da auch authentisch begegnen. Genauso greife ich natürlich bei unangemessene m Verhalten, wie etwa Hauen ein. Da bin ich ganz bei dir. Grüße, Fiona.
Vorne weg: Übertriebene und „falsche“ Höflichkeit mag ich auch nicht und erwarte diese auch nicht von meinen Kindern. Sie sollen authentisch sein und sich so verhalten dürfen, wie sie sich fühlen.
Trotzdem hätte ich ein „aber“, basierend auf eigener Erfahrung:
Ich glaube, meine Eltern hatten einen ziemlich ähnlichen Erziehungsansatz wie du. Insbesondere meine Mutter musste früher teilweise noch einen „Bückling“ machen und fand das so furchtbar, dass sie bei uns gesagt hat, wie müssen nichts tun, sondern eben abgucken, was wir selbst für richtig erachten.
Aus Sicht des (inzwischen erwachsenen) Kindes kann ich sagen, dass ich mir manchmal (oder oft?) gewünscht habe, meine Eltern hätten mir mehr „Manieren beigebracht“. Einfach aus dem Grund, dass es mit dem nur abgucken oft nicht getan ist, weil viele Menschen vieles unterschiedlich machen. Und so habe ich mich im Umgang mit Fremden (aus „bügerlichen Kreisen“), gerade bei den Eltern von Freunden, oft sehr unwohl gefühlt, weil ich nicht wusste, „was sich gehört“ – und deswegen oft unabsichtlich angegeckt bin.
Wenn man weiß, was von einem erwartet wird, dann kann man selbst entscheiden, ob man diese Erwartungen erfüllen will. Wenn man es nicht weiß, dann fühlt man sich oft unsicher.
Das geht mir übrigens bis heute so. Ich bin unsicher beim Leute begrüßen, bei gesittetem Essen, beim Tisch decken oder abdecken oder sonstigen Hilfestellungen, wenn ich irgendwo zu Besuch bin.
Viel davon gebe ich automatisch weiter an meine Kinder. Denn was ich nicht richtig gelernt habe, das fällt mir schwer selbst richtig beizubringen. Wo es mir bewusst wird, achte ich darauf. Und ich erkläre meinen Kindern (4 und 6) immer sehr genau, warum ich etwas von ihnen erwarte oder warum es netter wäre, z.B. anders zu reagieren, um jemand anderem ein besseres Gefühl zu machen. Das verstehen und akzeptieren die Kinder meist sehr gut.
Danke für deinen Kommentar und das Zusteuern deiner Erfahrung. Ich denke, dass Vorleben und ggf Erklären ausreichen, um Erwartungen weiterzugeben. Gelegentlich sage ich zB zu meinem Kind ‚die Frau freut sich, wenn du winkst‘, aber ich lasse ihr die Wahl, fordere sie nicht gezielt auf und nehme zB nicht ihre Hand, um mit ihr zusammen zu winken. Ich denke schon, dass das ausreicht. Ob es das tatsächlich tun wird, wird aber wohl nur meine Tochter beantworten können, wenn sie erwachsen ist. Lg, Fiona
Hi, ich muss sagen, ich habe etwas Probleme mit der Wortwahl, einerseits sagst Du, dass jeder seine Wege hat, gleichzeitig urteilst Du aber, dass diejenigen, die Deinen Weg nicht teilen möchten, dies eben tun, weil sie gegen die festen Strukturen im Kopf nicht angehen. Dass man bewusst anders handelt und das für sich reflektiert, gibts aber auch ? Genauso ist es nicht so schwarz-weiß. Mein Kleinkind muss niemandem zurück winken, nicht mit fremden Leuten reden. Von meinem Schulkind erwarte ich das eben schon. Jeder hat seinen eigenen Weg, aber vielleicht sollte man eben gegenseitig nicht urteilen? Also weder dass Leute urteilen, weil Ihr Dinge anders handhabt, noch, dass Du implizit anderen verurteilst? Alleine das „unverbogen“ ist doch schon so wertend? Ich glaube auch, dass Vorbild sein und ein positives Umfeld vieles bewirken. Trotzdem wird ein Kind nicht „verbogen“, wenn man erzieht und auch da gibts unendlich viele Nuancen. Liebe Grüße
Hallo
Ich versuche schwarz weiß Denken so gut es geht zu minimieren,aber natürlich hat jede Meinung eine gegen Meinung -das lässt sich überhaupt nicht vermeiden. Es ist okay, wenn du dich entscheidest dein Kind zu erziehen, aber dass ich mich dagegen entschieden habe resultiert natürlich aus meiner Perspektive auf Erziehung. Und diese möchte ich ua. in meinem Blog erklären. Erziehung in meinen Augen ist eine gewaltsame Formung -dass das nicht jeder so sieht, ist mir klar. Mit meinem Blog möchte ich mich aber natürlich auch positionieren, vondemher tätige ich Gegenüberstellungen und erkläre meine Gedanken dazu. In einem ganzen Buch würde die Toleranz und die Farbenfrohheit der Wege sicher deutlicher werden. Hier beschränke ich mich auf einzelne Beiträge, und die bilden natürlich immer nur einen fokussierten Teil des ganzen ab. Ich lade dich aber gerne ein, dich weiter umzuschauen, einzulesen, um vielleicht meine Sichtweise nachvollziehen zu können. Genauso leben muss aber niemand. Und das meine ich wirklich so. ❤
Grüße, Fiona
Hallo Fiona,
ich habe bei meinen beiden Kindern (4 und 6) eher die Erfahrung gemacht, dass ich diejenige war, die Erwartungen hatte … die Bäckersfrau oder unser Metzger sahen das immer ganz entspannt. Gerade als sie eben noch wirklich Kleinkinder waren. Ich denke, jeder weiß, dass kleine Kinder einfach nur tun, worauf sie Lust haben. Das ändert sich dann aber mit der Zeit.
Mein Großer ist jetzt 6, da sehen die Erwartungen schon anders aus. Er ist aber ein liebes und verständiges Kerlchen. Den musste ich nie ermahnen, hier genügte reines Vorleben. Wahrscheinlich wäre er das ideale Objekt zum Experiment Unerzogen.
Denn meiner Meinung nach kommt alles auch auf den Charakter des Kindes an.
Bei der kleinen Mistmatz – und hier sagt der Spitzname wahrscheinlich schon alles – sieht das nämlich ganz anders aus. Sie ist ungeduldig, launisch und macht meistens ein ziemlich grimmiges Gesicht. Den Befehlston hat sie ganz hervorragend drauf und wenn sie etwas bekommt, ist das für sie selbstverständlich. Bei ihr muss ich ganz anders durchgreifen, denn Vorleben allein zieht hier nicht. Und auch wenn ich ihre Mutter bin, und ich natürlich alles für sie tue, möchte ich doch, dass das irgendwo geschätzt wird. Denn immer nur „MAMAAA, du musst …!“, „MAMAAA, ich hab‘ Durst!“, „MAMAAA, ich will Süßigkeiten!“, … Sie ist jetzt 4,5 Jahre alt. Es nervt. Sie muss nicht „bitte“ und „danke“ sagen. Denn wenn sie es sagen würde, dann nur weil sie es muss. Der Ton macht die Musik. Also reagiere ich auf unhöflich vorgetragene Wünsche in pampigem Tonfall nicht mehr. Die Stimmung wird in der jeweiligen Situation nicht besser, aber ich hoffe auf Einsicht. Irgendwann mal. Und meine Beweggrund dafür ist nicht die gesellschaftliche Erwartung, sondern dass ich selbst das Gefühl haben möchte, nicht nur Personal zu sein.
LG, Tina
Hallo Tina
Danke für deine Gedanken 🙂
Ich sehe unerzogen nicht als ein Experiment, dass Charakteranhängig ist. Ich lebe so mit meinem Kind, egal wie es sich verhält und darauf reagiert. Unerzogen ist nichts was funktioniert oder nicht funktioniert, sondern eine innerer Haltung.
Aber: ich verstehe sehr gut deine Gedanken dazu, was dein jüngeres Kind betrifft. Auch wir als Eltern möchten wertgeschätzt werden. Ich weiß ehrlich noch nicht, wie es mir gehen wird, falls meine Tochter einen ‚Befehlston‘ haben wird. Das werden dann neue Herausforderungen auf unserem Weg. ❤
liebe Grüße, Fiona