Erziehungsfrei

Ohne Regeln? Von der Idee, dass unerzogene Kinder tun, was sie wollen

Ich kann es ehrlichgesagt nicht mehr hören, ohne langgezogen zu seufzen. Es ist eines dieser Vorurteile, das mir immer wieder mal begegnet. „Aber was soll denn aus diesen unerzogenen Kindern werden, die ohne Regeln aufwachsen und tun und lassen was sie wollen? Diese Prinzessinnen, die ihren Eltern tagtäglich auf der Nase herumtanzen?“

Niemand behauptet, dass wir ohne Regeln leben.

Wir leben ohne Erziehung.

Ohne Regeln geht es NICHT. Muss es auch gar nicht!

Erziehung bzw. Erziehungsfrei sagt etwas über das WIE im Umgang mit Kindern aus. Unsere erziehungsfreie Haltung bestimmt, wie wir unsere Tochter wahrnehmen wollen. Nämlich als einen gleichwürdigen Menschen, der keine Formung unsererseits benötigt.

Erziehungsfrei kann deswegen verschieden aussehen. Konflikte und Lösungen sind individuell. Bedürfnisse unterscheiden sich. Jede Familie findet etwas andere REGELUNGEN, mit denen sie gut zurechtkommt. Eine Familie mit drei Kindern handelt ganz anders, als die Eltern eines Einzelkindes, alleine schon, weil mehr koordiniert wird. Und wer Zuckerkonsum kritisch sieht, wird sich mit Selbstbestimmung darin schwertun.

Erziehung bestimmt die Art und Weise, wie wir Kinder behandeln. Erziehung richtet sich von oben nach unten, bestimmt Lebensweisen vor und formt diese durch Sanktionen. Im Fokus von Erziehungsfrei steht ein anderer Umgang mit dem Kind, der auf Gleichwürdigkeit und eine positive Bindung setzt. WIE kommunizieren wir mit unserem Kind? WIE lösen wir Konflikte? WIE nehmen wir unser Kind und ihre*seine Emotionen wahr? WIE sieht unsere Beziehung aus? Sind wir in Konflikten miteinander verbunden oder stellen wir uns gegeneinander auf und geraten in einen Machtkampf? WIE geht es uns?

Das alles tangiert erstmal nicht die Existenz von Regeln.

Es gibt Regeln im Zusammenleben.

Soziale Absprachen. Sicherheitsrelevante Regeln. Gesetze. Davon kann und will ich nichts aushebeln. Die meisten Regeln sind allgemeingültig, gelten für mich genauso wie für mein Kind. Andere Regeln betreffen N. Das sind Entscheidungen, für die ich die Verantwortung trage, solange sie das alleine nicht kann.

Auf Erziehung zu verzichten entbindet mich nicht von meiner Verantwortung.

Als ich entschieden habe, mein Kind nicht erziehen zu wollen, kam mir nicht einmal der Gedanke, jetzt regellos zu werden. Genaugenommen hat sich an meiner Idee von Regeln, Absprachen oder an dem, was ich zulassen kann und was mich stört, eher wenig verändert. Jedenfalls würde ich wohl auch erziehend, nicht zu den strengen Eltern zählen. Was sich viel mehr verändert hat, ist mein UMGANG mit Konfliktsituationen, mein Verständnis für Bedürfnisse und Selbstbestimmung, meine Achtsamkeit. Und mein Empfinden dafür, wofür Regeln im Zusammenleben eigentlich gut sein sollen.

Dich interessiert Erziehungsfrei? Lies auch: Erziehungsfrei leben: Ich gebe die Verantwortung nicht ab!

Zwischen Schutz und Macht: Von der Kunst Regeln nicht zu missbrauchen

Regeln existieren überall, wo Menschen aufeinandertreffen.

Viele Regeln schützen uns. Sie sichern auch unsere Freiheit und Integrität mit Rücksicht auf die Freiheit und Integrität des anderen. Sie helfen uns, unser Zusammenleben zu koordinieren.

Regeln sind also gar nicht aus Prinzip bösartig. Ich denke sogar, sie können sinnvoll sein – solange sie sich in einem Rahmen bewegen, der tatsächlich dem Zusammenleben dienlich ist.

Regeln sind nützlich, solange sie dem Zusammenleben dienen und uns nicht GEGENeinander ausspielen

Die Sinnhaftigkeit einer Regel ist mir wichtig.

Ich frage mich immer, warum ist es notwendig, so zu handeln? Was steckt dahinter? Was passiert, würden wir die Regel aufgeben? Welche Möglichkeiten haben wir? Kann ich mir diese Fragen beantworten, kann ich meiner Tochter im Konflikt viel klarer begegnen, und entscheiden, wie es weitergeht.

Ist eine Regel nicht sinnvoll, brauchen wir sie nicht.

Regelungen sollen mMn nicht willkürlich sein, sondern für echte Werte und Bedürfnisse stehen. Wenn es keine echte Begründung gibt, ist eine Regel Quatsch. Ein Machtmissbrauch. Und da geht es mit dieser Angriffsfläche für Vorurteile vermutlich los: Fange ich einmal an, Regeln in Frage zu stellen, komme ich zwangsläufig an einen Punkt, an dem ich nicht mehr ALLES so mache, wie andere. Und ab da ist es den Anderen erfahrungsgemäß auch erstmal egal, wie viele sinnvolle Regeln des Zusammenlebens du sonst so mit deinem Kind einhältst. Du lässt dein Kind barfuß laufen, weil er*sie es will, und schon hast du es nicht im Griff.

Wir benutzen Regeln schlichtweg nicht zur (erzieherischen) Problemlösung und Formung (Erlauben – Verbieten). Wir machen keine Regeln, um Gehorsam zu forcieren. Und wir machen auch keine Regeln, die keinen Zweck erfüllen. Eigentlich machen wir überhaupt keine Regeln einfach so. Was niemandem schadet oder tangiert, ist machbar. Und ja, ich gebe es zu, es macht mich schon etwas schadenfroh, wenn N barfuß aufs Klettergerüst klettert, während ein Elter mit strenger Mine gerade erklärt, dass es Verboten sei, auf dem Spielplatz auf den Spielgeräten die Schuhe auszuziehen. Oops.

Das Straucheln zeigt dann meistens ziemlich deutlich: Einen echten Grund gibt es nicht.

Lies auch: Von Verboten, Etiketten und fehlendem Vertrauen. Eine Spielplatzanekdote.

Es ist mMn falsch, Regeln zweckgebunden zu missbrauchen. Regeln zu machen, damit es bequemer wird. Ich habe mal jemanden zum Kind sagen hören, man dürfe bei jedem Spielplatzbesuch nur einmal ein Eis an der Bude kaufen, damit genug für alle da ist. Das ist feige. Erklär deinem Kind halt, warum DU kein zweites Eis kaufen willst, aber Regeln erfinden, damit das Kind Ruhe gibt, oder weil einem kein Grund einfällt: No Go!

Regeln existieren, auch wenn wir Erziehungsfrei leben, aber sie haben für uns keinen Bestimmungscharakter, mit dem wir uns über unser Kind hinwegsetzen. Regeln sind hier dienlich FÜR etwas, einen Wert, ein Bedürfnis. Aber richten sich nicht GEGEN N.

In erster Linie geht es also um die Einstellung zu Regeln. Um Reflexion, um die Art und Weise, WIE wir Regeln vermitteln und AUS WELCHEM GRUND wir Regelungen treffen

Lies auch: Müssen Strafen sein? Was ich stattdessen tue, wenn mein Kind Mist baut

Wenn Regeln zu Konflikten führen: Lösungen statt Drohungen

Regeln bedeuten auch nicht immer, dass es nur eine Entweder Oder Lösung gibt. Okay, bei manchen Dingen schon. Auf die Straße laufen ist zum Beispiel klar kompromisslos. In vielen anderen Dingen ist künstliche Kompromisslosigkeit aber etwas, was ich eher bei Erziehung einordnen würde. Wir haben hier eine Regel, die wird entweder befolgt oder es geht gar nichts und wir müssen eben bestrafen/bedrohen, bis die Regel befolgt wird. Was passiert, ist ein Machtkampf. Wir können aber aus diesem Kampf aussteigen.

Es geht nicht, anderen Kindern das Spielzeug wegzunehmen. Statt zu bestrafen, kann ich aber meinem Kind helfen, zu kommunizieren oder -was oft hilft- mit ihm spielen und seinen Tank nach Aufmerksamkeit und Liebe auffüllen. Das rettet sehr viele Situationen!

Wir versuchen, Lösungen zu finden. Wut und Frust zu begleiten.


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Oft hilft es schon, gar keine Entweder A (positive Folge bei Einhalten der Regel) Oder B (negative Androhung) Situation entstehen zu lassen. Meiner Erfahrung nach passieren solche erzieherischen Zwickmühlen vor allem dann, wenn uns keine Lösungen (mehr) einfallen, wenn wir nicht weiter wissen oder, wenn wir das Gefühl haben, uns durchsetzen zu müssen. Aber: Den Gedanken loszulassen, dass wir als Eltern irgendeinen Kampf gegen unser Kind gewinnen müssten, indem es uns Gehorsam zeigt, ist wertvoll.

Dann haben auch Lösungen Platz in unserem Denken: Was können wir wirklich tun?

Wir stellen uns bei der Schaukel an. Aber es heißt deswegen nicht „entweder anstellen“, oder „gar nicht schaukeln“. Sondern: Anstellen und warten, oder Anstellen und dabei im Sand buddeln, beim Warten einen Keks aus‘m Rucksack kramen, oder erstmal was anderes machen und die Schaukel im Blick behalten. N kann das Warten blöd finden und frustriert sein, ohne dass ich ihr drohe, gar nicht mehr schaukeln zu dürfen.

Die Herausforderung ist eindeutig.

Wie helfen wir unseren Kindern, Regeln zu begreifen, ihre Sinnhaftigkeit nachzuvollziehen und einzuhalten? Wie gehen wir mit Regelbrüchen um, wenn wir nicht bestrafen wollen? Das ist alles gar nicht immer einfach. Besonders wenn die Nerven blank liegen, was wirklich bei allen Eltern vorkommt. Regelmäßig. Was wir tun, ist so klar, wie ernüchternd, für alle die hier nach DER Erlösung suchen: Wir reden. Viel reden. Und Vorleben. Authentisch sein. Klar sein (Und dafür Regeln in ihrem Sinn hinterfragen!). Erklären. Begleiten. Da sein. Kuscheln. Und wieder reden. Vor vorne. Dass ich verstehe, dass meine Tochter manche Regeln (noch) nicht nachvollziehen kann und ihrem Frust empathisch begegne, heißt längst nicht, dass ich zulasse, dass sie wichtige Regeln bricht (wenn ich es verhindern kann), oder abnicke, wenn sie weiter vorläuft, als abgesprochen. – Aber es heißt, dass wir reden. Dass ich sie ernst nehme.

Die Art und Weise, WIE wir miteinander kommunizieren, steht bei Erziehungsfrei im Vordergrund. Auf Augenhöhe eben. Ohne Erniedrigungen, Drohungen, Bestrafungen. –

Es geht nicht darum, alles möglich zu machen. Es geht darum, wie wir mit unseren Kindern sprechen und welches Gefühl wir ihnen vermitteln, wenn sie sie selbst sind.

Ohne Regeln, oder was? Regeln trotz Erziehungsfrei

Gartenarbeit: Im Garten gibt es Regeln
Achtsamkeit mit der Umwelt: Auch im Garten gibt es Regeln.

Ganz ohne Regeln geht es nicht. Ich kann den Aufschrei der Skeptiker ja durchaus nachvollziehen: Wenn ich davon ausgehe, dass Erziehungsfrei Regeln aller Art ausschließt, wäre das tatsächlich schwierig. Fakt ist aber, Verzicht auf Erziehung ist NICHT gleichzusetzen mit Regellosigkeit.

Oder Grenzenlosigkeit.

  • Ich lasse N im Straßenverkehr vorlaufen/ mit dem Laufrad vorfahren. Das geht nur, weil sie sich zuverlässig an Absprachen und Regelungen hält: Nicht alleine über die Straße, sondern warten. Nicht außer Sichtweite (oder weiter als abgesprochen) fahren.
  • Ob Laufrad oder Roller: Fahrbare Untersätze werden bei uns mit Helm benutzt. Außerdem möchte ich, dass N Schuhe trägt, wenn sie Laufrad oder Roller fährt. Das Verletzungsrisiko ist mir zu hoch. Steigt sie ab, kann sie beides nach belieben ausziehen.
  • Feste Bälle sind für draußen. In der Wohnung kann N alternativ mit Luftballons und Stoffballen (Stoffbälle im Kinderzimmer oder Schlafzimmer) spielen. Kein Problem.
  • Auf der Couch kann getobt werden. Springen verlagern wir aber ins Schlafzimmer. Das ist zum einen sicherer und kann zum anderen nicht so schnell kaputt gehen, wie die Couch. Unser Pallettenbett kann jederzeit zum Hüpfen und Turnen benutzt werden.
  • Im Garten pflanzen wir Gemüse und Obst, um die Pflanzen zu pflegen und davon essen zu können. Um die Pflanzen zu schützen, reißen wir nicht an ihnen, graben nicht in den fertigen Beeten und laufen nicht quer über Pflanzen oder frisch gesätes Gemüse. Im Sandkasten kann gebuddelt werden, in unbepflanzten Beeten auch. Und die wild wachsenden Blumen, von denen wir viele im Garten haben, können gepflückt werden.
  • Mein Kind muss nicht teilen. Andere Kinder auch nicht. Wir fragen, bevor wir Spielzeug/generell Dinge von anderen Kindern nehmen. Natürlich gibt es Abstufungen, je nachdem, ob sich die Kinder kennen und Konflikte schon alleine lösen, und abhängig davon, um was für eine Situation es sich genau handelt. Möchte ein Kind seine*ihre Sachen zurückhaben, geben wir die Sachen wieder ab (oder finden einen Kompromiss).
  • Vom Balkon wird nichts heruntergeworfen.
  • Nach acht Uhr spielen wir leise(r), starten nicht mehr ausgerechnet einen Hürdenlauf durchs Wohnzimmer inklusive Fanfaren. Ich bin weiß Gott nicht fanatisch dabei. Ich unterbreche Spiele generell eher ungern. Kinderlärm ist ja bekanntlich auch gar kein Lärm und Nachtruhe erst ab 22Uhr. Unsere Nachbarn sind tolerant, aber überstrapazieren wollen wir unser Glück ja nicht und möchten Rücksicht nehmen. Ab acht Uhr begleite ich deswegen zu ruhigeren Spielen und lenke Rennen und Toben um.
  • Gerade versuche ich N an die Regelung heranzuführen, dass ich abends wieder mehr Zeit für mich möchte, und sie sich vermehrt alleine beschäftigt, wenn sie noch wach ist.
  • Bei Regelspielen halten wir uns an abgesprochene Regeln.
  • Müll gehört in den Mülleimer. Filzstift nicht an die Wand. Dreckige Schuhe nicht aufs Bett. Nach dem Zähneputzen nicht ausgerechnet Schokobonbon und Lieblingssaft. Dann gibt es da noch den all Eltern bekannten ungeschriebenen „Spielplatzknigge“: Anstellen. Rutsche freimachen. Ihr kennt das.

usw.

Geht es Ohne Regeln? Regeln ohne Erziehung #bindungsorientiert #unerzogen
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Puh! Von wegen ohne Regeln. Da kommt einiges zusammen, trotz Erziehungsfrei Leben.

Und die Liste ist längst nicht vollständig.

Ich denke nicht, dass ich erwähnen muss, dass es immer mal wieder Situationen gibt, in denen N manches anders sieht, als ich. Wobei ich sagen muss, im Straßenverkehr und im Garten kooperiert sie wirklich einwandfrei. Da ist es kein Wunder, dass es an anderen Stellen auch mal weniger gut gelingt mit der Zusammenarbeit, Gerade diese allgemeinen Regeln, die so selbstverständlich erscheinen, dass wir sie voraussetzen, liefern häufig Konfliktpotenzial. Hauen ist gerade zum Beispiel wieder Hoch bei N im Kurs. Und während Müll draußen in den Mülleimer werfen, scheinbar intuitiv noch sinnvoll erscheint, lässt N ihr Bonbonpapier im Wohnzimmer quasi aus Prinzip einfach an Ort und Stelle liegen.

Es ist nicht immer einfach, hinzuschauen und auf Augenhöhe drüber zu reden, wenn etwas schief läuft.

Manchmal klingt es verlockend, zu drohen, dass es dann eben keine Bonbons mehr gibt, wenn das Papier nicht in den Müll geworfen wird. Und sei es nur, um sich Überlegen zu fühlen. Stattdessen hebe ich das Papier auf, erkläre wieder, dass ich mir wünsche, dass sie ihren Müll wenigstens auf den Tisch legt, und packe das nächste Bonbon dann selber aus, gebe es N ohne Papier und spare mir diesen Kampf.

| Fiona

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10 Gedanken zu „Ohne Regeln? Von der Idee, dass unerzogene Kinder tun, was sie wollen

  • Ich finde es auch nicht gut zu bestrafen. Unser Kind hat die Wand angemalt und da haben wir auch auf eine funktionierende Kommunikation gesetzt. Im Endeffekt ist es auch nicht schlimm, da man einen Malerfachbetrieb darum beten kann die Wand neu zu streichen. Dann ist das Problem auch wieder behoben.

    Antwort
  • Also, du hast schon Regeln. Regeln, die nur dazu da sind, Macht zu demonstrieren, sind natürlich Quatsch. Aber was machst du, wenn N den Helm beim Fahren nicht aufsetzt? Da wird es doch eine Konsequenz geben. Oder akzeptierst du das dann einfach? Wenn du eine Konsequenz hast, z.B. „ohne Helm darfst du eben nicht fahren“, wäre das mMn ja Erziehung und auch Durchsetzen einer Regel.
    Eine Regel aufzustellen und zu hoffen, dass sie befolgt wird, kann bis zu einem gewissen Grad funktionieren, weil man Routinen hat und das Kind dem Elternteil vertraut. Aber es wird doch dann schwierig, wenn das Kind sich selbst gefährdet, z.B. sich weigert, sich zu waschen über Tage bis Wochen, oder eine Regel bricht, die das Zusammenleben ermöglicht (Klogang im Wohnzimmer, Wände anmalen, andere mit Essen bespucken etc.). „Keine Erziehung“ würde hier für mich bedeuten, dass man die Schultern zuckt und sich mit der Situation als Eltern abfindet. Okay, unser Kind malt die Wände an, pinkelt hin und wieder ins Wohnzimmer, weil es keine Lust hat, auf Toilette zu gehen, spuckt seine Geschwister mit vorgekautem Gemüse an. Ist halt leider so, Pech gehabt.“ Erziehung würde bedeuten, dass man hier ganz klare Grenzen setzt, einmal erklärt, warum das nicht geht, aber wenn es wieder passiert, auch eine „Strafe“ oder Konsequenz erfolgen lässt. Kind kann nicht mehr in der Nähe der Geschwister sitzen oder bekommt auch wirklich keinen Nachtisch, wenn es dauernd spuckt. Farbstifte werden einkassiert, bis sicher ist, dass Wände wirklich nicht angemalt werden, gibt es die Stifte nur noch zu festen Zeiten am Tisch, wenn ein Malblock vor dem Kind liegt. Das Kind muss so lange wieder Windel tragen, bis es die Toilette wieder zuverlässig benutzt und beim Säubern des Bodens helfen.
    Natürlich MÖCHTE ein Kind Beziehung, es will in der Regel eine gute Beziehung mit den Eltern, aber nicht immer den Geschwistern. Hier würde ich persönlich auch eingreifen, weil sonst ein Geschwisterkind schnell lernt, dass es machtlos ist und immer den kürzeren zieht, weil das andere es immer ärgern kann und es sich selbst nicht wehren kann. Aber ohne Konsequenz, ohne Routinen, ohne Normen (Brot oder Müsli zum Frühstück, Kuchen zum Kafeetrinken. Schneeschuhe direkt hinter der Tür ausziehen. Nicht nach dem Baden nass und nackt durchs Haus laufen) wird sich das Kind doch ganz schnell eigene Routinen und Normen angewöhnen, die dann irgendwann zu großen Konflikten mit anderen führen. Oder jeder müsste sich eine enorme Gelassenheit und Toleranz angewöhnen. Aber wie würde man die dann dem Kind im Umgang mit anderen Kindern beibringen, wenn die es etwa mit Gemüse bespucken oder den Teppich in seinem Zimmer ruinieren, weil sie da mit ihren Schneeschuhen drübergetrampelt sind?
    Sollte das Kind nicht auch lernen, dass seine Freiheit dort aufhört, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird? Dass es Normen gibt, die bei den meisten Menschen gelten?
    Meine Eltern hatten vor ein paar Jahren ältere Bekannte zu Besuch, mit denen sie sich früher regelmäßig getroffen hatten und die dann weiter weggezogen waren. Ein älteres Ehepaar. Ich war auch während ihres Besuches bei meinen Eltern. Wir waren ehrlich gesagt alle entsetzt, weil die beiden sich viele uns gängige Normen abgewöhnt hatten. Z.B. fingen sie einfach an zu essen, sobald einer am Tisch saß, warteten nicht, bis alle saßen. Wenn sie fertig waren, standen sie auf. Wir empfanden das als sehr unhöflich und rücksichtslos. Die beiden haben also mit ihrem Verhalten erreicht, dass wir sie jetzt als ziemlich unhöflich einordnen. Das beeinträchtigt natürlich unseren weiteren Umgang mit ihnen, z.B. Restaurantbesuche würden meine Eltern von sich aus jetzt eher nicht mehr vorschlagen.
    Wenn ein Kind zu Hause auch in dieser Form von der Norm abweichen kann, wenn es Verhaltensweisen normal findet, die andere befremdlich finden, könnte das auch seine späteren Freundschaften beeinflussen.
    Wie sähe eine Gruppe (Kindergarten, Schulklasse) aus, in der JEDER seine ganz eigenen Normen von zu Hause kennt und immer wieder irritiert ist, dass andere seine Grenzen überschreiten?

    Meine Eltern hatten z.B. für alle Geschwister gleiche Regeln. Man durfte nur mit Erlaubnis ins Zimmer der anderen, jeder durfte über seine Sachen bestimmen, keiner durfte die Sachen des anderen einfach so nehmen. In der Mittelstufe hatte ich dann eine Freundin, bei der es normal war, dass die Geschwister sich gegenseitig Sachen wegnahmen und kaputt machten. Ich kam in ihr Zimmer und dort hin ein zerfetztes Poster an der Wand. Auf meine Nachfrage sagte sie, sie habe ihrer Schwester etwas genommen und die fand das nicht gut und hätte als Reaktion nun ihr Poster zerrissen, was dazu führen würde, dass sie sich wiederum eine „Rache“ ausdachte. Diese Unsicherheit, ob meine Sachen nach meiner Abwesenheit noch intakt und in meinem Zimmer wären, hätte ich nicht ertragen, ich hätte aber in so einer Situation auch angefangen, extrem misstrauisch gegen meine Schwester zu werden!

    Antwort
    • Hallo Frederica, Erziehung und die Existenz von Regeln sind nicht gleichzusetzen. Wir haben Regeln. Auf nicht eingehaltene Regeln folgen durchaus Konsequenzen, allerdings nicht im Sinne von Bestrafungen.
      Ohne Helm fahren wir kein Rad/Roller (aufgrund des Verletzungsrisikos), wir können uns dann aber anders fortbewegen und müssen nicht als Strafe etwa zuhause bleiben – der Grad ist da oft recht schmal, das stimmt. Vor allem kommt es, so ist mein Gefühl und mein Erfahrungsschatz, auf die Begleitung an – das begleiten der Emotionen, von Frust und Wut. Gehe ich auf Augenhöhe und vertrete zwar klar, aber nicht gemein die Regel, oder haue ich Strafen raus und vermittele ein „selbst schuld“. Es sind in vielen Momenten die kleinen Nuancen, die das große Ganze der Beziehung ausmachen.
      Die Freiheit des einen endet, wo die des anderen beginnt.. ist ein Leitspruch, den auch wir sehr schätzen und weitergeben. Zusammenleben ist immer auch zusammenraufen, und achtsam füreinander sein. Das finde ich sogar sehr wichtig. Meine Kinder lernen Normen kennen, Erwartungen und Regeln des Zusammenlebens. das schließt erziehungsfrei zu keinem Moment aus – es geht vielmehr um das WIE, als um das WAS.
      zu deinem letzten Punkt: Für meine beiden gelten nicht dieselben Regeln, das wäre Murks, denn die Große kann und versteht schon ganz andere Dinge als die Kleine. Ganz klar bestimmt aber etwa jede über ihre persönliche Sachen, und sie gestalten ihre Beziehung betreffende Regeln mit. viele Grüße

  • Hallo, vielen Dank für diesen schönen Beitrag. Ich selber schreibe auch über Themen wie Kinder und Babys.
    Liebe Grüsse
    Marco

    Antwort
  • Das sind ganz schön viele Regeln. Was für mich eindeutig Erziehung ist. Ich finde es spannend zu lesen, denn ich bin Erzieherin ? aber deine oder eure Ansichten und wie ihr mit Situationen umgeht, finde ich spannend und kann in die Erziehung meines eigenen Kindes und auch auf Arbeit Pros und Contras gut einfließen lassen

    Nette Seite

    Antwort
    • Danke. Definitiv kommt es auch auf die persönliche Definition von Erziehung an. An anderer Stelle schreibe ich darüber auch immer Mal wieder. Beste Grüße xX Fiona

  • Hallo, mir gefallen deine Haltung zum Kind und viele Herangehensweisen ähneln meinen eigenen. Ich denke aber auch, es bedarf nicht dieser dauernden Wortklauberei, ob etwas nun Erziehung ist oder Beziehung oder Haltung. Es ist für mich eben die Art und Weise des Umgangs mit dem eigenen Kind und damit übe ich unweigerlich Einfluss auf seine Entwicklung aus… man könnte auch sagen, ich trage damit zur Formung der Persönlichkeit bei. Ich würde mir in einigen Beiträgen wünschen, diese Begrifflichkeit „unerzogen“ etwas weniger zu strapazieren und die Inhalte für sich sprechen zu lassen.

    Antwort
    • Hallo 🙂 Ich kann deinen Einwand nachvollziehen. Ich selber ordne mich aber klar der erziehugsfreien Haltung zu und WILL unser Tun von Erziehung abgrenzen. Das ist mir wichtig, deswegen benenne ich es auch so. Viele Grüße, Fiona

  • Ich finde deine Beiträge und deine Einstellungen total spannend. Wir sehen und handhaben vieles ganz genau wie ihr (mit den gleichen Schwierigkeiten und auch „Rückfällen“ in alte Erziehungsmuster): Unseren Kindern mit Liebe und auf Augenhöhe begegnen, Vorbild und authentisch sein und bei Konflikten gemeinsam Lösungen suchen. Ich würde aber niemals sagen, dass das keine Erziehung ist… Sondern vielmehr eine besondere Art der Erziehung; eine Haltung und ein (sogar ziemlich reflektiertes) Verhalten, das die Entwicklung unsrer Kids beeinflusst. Aber eigentlich ist ja auch nicht wirklich wichtig, wie man es nennt. Der Kern bleibt ja derselbe. Ganz liebe Grüße!

    Antwort
    • Hallo Judith. Ich gebe dir Recht, am Ende kommt es wirklich nicht auf die Bezeichnung an. Das ist auch einfach eine Definitions- und Wohlfühlfrage. Für mich fühlt sich der Erziehungsbegriff mit dem wie wir leben nicht stimmig an. Letztlich tut das aber nicht viel zur Sache, wie wir es nennen, sondern was bei den Kindern ankommt. Alles Liebe xX Fiona

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