Und eines Tages Wachsen Dir Flügel: Kinder Loslassen
Bist du deinem Kind der sichere Boden, der ihm*ihr Halt gibt? Die Wurzeln können wir ihnen geben, die Flügel wachsen ihnen von alleine. Eines Tages werden unsere Kinder loslassen – Und wir unsere Kinder loslassen! Vielleicht ist dein Kind ein bisschen wie meine große Tochter: Etwas schüchtern, und du fragst dich, wann er*sie deine Hand loslässt. N brauchte etwas Zeit. Sie ist nicht ganz so rasant losgeflattert, aber eines Tages ist er eben doch da: Der Tag, an dem ein Kind die Flügel ausbreitet und Flugversuche unternimmt. Und dann ändert sich die Frage plötzlich, von „Wann ist mein Kind bereit zu fliegen?“ zu – „Bist du bereit loszulassen?“
Plötzlich stand N vor mir und wollte mit diesen Nachbarjungs mitgehen. Alleine.
JEDES KIND HAT EIN EIGENES TEMPO. AUCH SCHÜCHTERNE KINDER
Fangen wir vorne an. N ist eher schüchtern und allerhöchstvermutlich bis ziemlich sicher hochsensibel. Sie ist vorsichtig, anstatt ins Getümmel loszurennen. Fremden gegenüber brachte sie lange wenig Worte raus, auch anderen Kinder nicht. Wir haben darüber gesprochen, versucht sie zu stärken, wo wir konnten, und in manchen Zaubermomenten fand sie Freunde; aber vor allem haben wir ihre Art angenommen, wie sie ist.
Ich erinnere mich daran, wie sie die ersten Male mit dem Laufrad vorfuhr, um die Ecke bog und außer Sichtweite verschwand. Lang genug, dass ich etwas schneller ging. Oder daran, wie sie das erste Mal bei unseren Clanfreunden blieb.
Es sind die Momente, die meist unerwartet kommen, in denen sie sich etwas Freiheit stehlen. Wobei stehlen nicht das richtige Wort ist, denn es ist Freiheit, die ihnen gehört.
Erst seit gefühlt Kurzem, nämlich seit Geburt ihrer kleinen Schwester, hat sich wieder viel getan. Ja, N, meine N, ist kaum wiederzuerkennen. Nach unserem Umzug konnte sie schneller als erwartet neue Freunde finden, sprach von sich aus Kinder an, tratschte sogar mit deren Eltern, und kennt mittlerweile so einige Kinder und Erwachsene aus unserer Siedlung.
Keine*r von ihnen kann ahnen, wie schwer N sich mit dem Kontakteknüpfen einmal getan hatte. Dass sie auf meinen Arm gesprungen kam, sprach oder sah jemand sie an.
Plötzlich bin ich diese Mama mit den Kindern, die über den Spielplatz rennen. BabyL ist eine kleine Frohnatur, die jedem zuwinkt, und die Große nur noch unauffällig zögerlich. Ich musste lächeln, als neulich eine Mama auf dem Spielplatz mit ihrem schüchternen Kind, dass sich vor mir versteckte, ihren Unmut beklagte, dass ihres ja so gar nicht unter andere Kinder ginge. Ich kenne das, munterte ich sie auf, und erzählte von Nana.
Wie ich mich freue. Wie stolz ich bin.
Schüchterne Kinder sind wunderbar. Zum Umgang mit schüchternen Kindern lege ich dir Inke Hummels „Mein wunderbares schüchternes Kind“ ans Herz. ZUR REZENSION
KINDER LOSLASSEN: WIE WEIT LÄSST DU DEIN KIND ZIEHEN?
Vor ein paar Tagen kam es dann zu einer Situation, in der ich mir diese Frage unerwartet stellen musste. Bist du bereit loszulassen? Wie weit kannst du dein Kind ziehen lassen?
Es kam dazu, dass N mit zwei älteren Nachbarskindern – mit denen sie an diesem Nachmittag schon eine Weile, aber das erste Mal spielte – zwischen Spielplatz und danebenliegendem Schulhof umherstreunerte und zu einem anderen Spielplatz gehen wollte. Ein Stück weg. Über die Straße. Außer Sicht und Hörweite. „Du erlaubst es bestimmt nicht“, murmelte N leise. Einer der Jungs versprach prompt, auf sie aufzupassen. Tatsächlich musste ich viel weniger lange darüber nachdenken, als ich vermutet hätte. „Geh. Ich bin hier. Geht nicht woanders hin und guck bitte an der Straße.“ Und weg war sie, breitete die Flügel aus und nahm eine Flugstunde. Flugfünfzehnminuten, um genau zu sein. Dann war sie zurück. Am Spielplatz gab es eine Konfrontation mit einem großen Kind, wie ich hörte – Aber das ist jetzt Teil ihrer Geschichte, ich werde die Details nie erfahren.
Meine große Tochter ist fünfeinhalb Jahre alt. Ja doch, sie hat schon einige Kapitel ihrer Geschichte ohne mich geschrieben. Aber bisher war immer jemand da, der ein Auge auf sie hatte. Die Großeltern, die Clanfamilie, oder die nette Dame aus der Gartenspielgruppe. Jemand, der genauer berichten konnte, als „Da war‘n großes Kind“ – Alleine ohne Erwachsenen losziehen, ist noch neu. Kommt noch nicht häufig vor, aber öfter. Mir ist vieles durch den Kopf geschossen. Kann sie das? Schafft sie das? Was, wenn sie Angst bekommt, ohne mich? Hätte ich mitgehen müssen? Oder Nein sagen? Wann gehe ich hinterher, um nach ihr zu schauen?
Ich bin glücklich, schnell und voller Vertrauen zugestimmt zu haben. Ja mein Kind, du kannst das. Ich glaube an dich.
Hätte ich Nein gesagt, was wäre passiert?
Wir müssen bedenken, dass, wenn unsere Kinder WOLLEN, sie gerade in einer sensiblen, besonders empfänglichen Phase für unsere Reaktion sind.
- Mein Kind wäre enttäuscht gewesen.
- Vor den neuen Freunden, hätte sie als kleines Kind dagestanden, das nicht mitziehen kann. Das hätte auch ihr Selbstbild geprägt.
- Ich hätte meinem Kind signalisiert, dass ich ihr nicht vertraue und zutraue, dass sie macht, was hier viele andere Kinder tun. Macht sie es dann nächstes mal heimlich? (Wie stark war es bitte von ihr, nicht einfach mitzugehen, sondern hoffnungsvoll zu mir zu kommen!)
Ich habe vertraut, sie ein Stück losgelassen an diesem Nachmittag und sie ihre eigene Geschichte schreiben lassen, von der ich (oder eine andere Bezugsperson)kein Teil bin. Ich habe mir immer geschworen, ich werde meine Kinder loslassen, wenn sie mir sagen „Mama, ich schaffe das“.
KINDLICHE ENTWICKLUNG: EIN SPAGAT ZWISCHEN KINDERN HALT GEBEN UND KINDER LOSLASSEN
Ich werde sie Flugversuche machen lassen. Da sein, wenn sie dabei auf die Nase fallen sollten, aber sie nie stoppen, wenn sie fliegen wollen. I have to!
Und ich werde sie halten, wenn sie doch Rückversicherung brauchen. Werde da sein.
Noch sind es kurze Momente, der Radius überschaubar. Noch kommt sie immer wieder ins Nest zurück, streckt ihre Wurzeln wieder fest in den Boden, um Mut aufzutanken. Was ist das für eine spannende Zeit? Im ersten Lebensjahr meistert ein Baby den riesen Sprung zum Kleinkind.
Jetzt gerade macht mein Kleinkind den nächsten gigantischen Sprung.
Teil der kindlichen Entwicklung ist die sogenannte „Bindungs-Explorations-Balance“. Schon Babys richten ihr Verhalten zwischen den zwei Grundbedürfnissen Bindung (Nähe/Sicherheit) und Exploraton (Neugier/Eigenständigkeit) aus. Ihr kennt das: Sie wollen auf den Arm, krabbeln wieder los, schauen sich um und kommen wenig später zurück zum Auftanken. Der Zusammenhang zwischen den beiden gegensätzlichen Bedürfnissen Bindung und Exploration lässt sich während der gesamten kindlichen Entwicklung gut beobachten. Einerseits brauchen Kinder Nähe, andererseits wollen sie die Welt entdecken und immer mehr alleine schaffen. Beide Bedürfnisse bedingen sich dabei stark gegenseitig: Ist eine Situation verunsichernd, wird das Nähebedürfnis ausgelöst. Ist das Nähebedürfnis wiederum gestillt, kann auch die Umwelt wieder mutig erkundet werden. |
Der Umkreis wird wachsen, ihr Tun und Sein ohne mich jetzt immer mehr werden. Was beim Baby im kleinen Stil passiert, passiert bei N im Großen.
Nächstes Jahr kommt sie in die Schule. Dann wird der Wandel vermutlich noch viel krasser werden. Ich sehe das beim großen Clanbub. Dadurch, dass N nicht im Kindergarten war, wird die Umstellung für uns beide größer-
Ihre Wurzeln brauchten Zeit. Ihre Flügel wachsen. In ihrem Tempo.
Ich bin heute mehr denn je froh und dankbar, ihr diese Zeit zugestanden zu haben, ohne sie „ins kalte Wasser zu werfen“, damit sie das mit den Sozialkontakten auf die Reihe kriegt. Nicht wenige haben wegen der Schüchternheit zum Kindergartenbesuch geraten (Dabei wäre das am Ende ja auch nur ein Gewöhnungseffekt gewesen, keine Charakterentwicklung!) N konnte wachsen. Ohne Druck. Das ist so viel wert.
Nun flattert sie uns bald davon.
Und jetzt muss ich mich darin üben, loszulassen.
Wann haben eure Kinde angefangen, alleine irgendwohin zugehen, zu Freunden oder erste Wege nach draußen? Wie hat sich das angefühlt? Habt ihr loslassen können? Hinterlasst mir einen Kommentar!
| Fiona
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